Donnerstag, 22. Juni 2022, Unsere Familiensaga

Es geht um Schlesien, wo in besagtem Jahr 1944 in Löwen in der Domstraße1 und dann in Hopfenberg1 meine Großeltern lebten. Großvater Franz, der Geige spielen

onnte, hatte in einer Ziegelei gearbeitet. Als ein Gerüst umfiel, traf ihn ein Ziegel am Kopf. Er erlitt bleibende Schäden. Seine Augen „klappten“ weg. Dennoch wurde er zur Wehrmacht eingezogen, aber nach kurzer Zeit wegen Wehruntüchtigkeit entlassen. Er arbeitete als Maler. Meine Mama dachte immer, dass er Künstler sei und Bilder malt. Er war aber Anstreicher. Und es gab seine Frau Emma, die „Muttel“. Mit von der Partie waren fünf Kinder, vier Mädchen, ein Junge. Die Kleinste – grade erst geboren, wurde später meine Mama.

Die zivile Bevölkerung bekam den Krieg am eigenen Leibe erst zu spüren, als die Front näher rückte. Ihre Gräueltaten eilten den Russen so dramatisch voraus, dass es für Familien nur eine Alternative gab: Flucht. Franz und Muttel wollten jedoch nicht weg. Vor der Front floh die Familie mit einem der letzten Transporte im Februar 1945 in das von Deutschland noch besetzte Tschechien. Meine Mama – sozusagen als fünftes Rad am Wagen – durfte im Leiterwagen sitzen. Alle anderen mussten laufen. Über das Riesengebirge ging es nach Beraun, in die Nähe von Prag. Der Ort wurde Anfang Mai von den Russen bombardiert. Die Russen hatten den Flüchtlingstransport somit eingeholt. Der einzige halbwegs sichere Platz war die dortige Schule. Die tschechische Bevölkerung war sehr aufgebracht. Man musste wieder weg und sich sehr schnell entscheiden. Schon von dort aus machten sich viele Flüchtlinge auf den Weg nach Bayern. Unsere Familie tat das, was jede Familie getan hätte, aber es war die falsche Entscheidung. Muttel ging mit ihrem kranken Mann und den fünf Kindern nach Schlesien – in die Heimat – zurück. Teilweise musste man laufen, teilweise fuhr man in Waggons. Einmal stand der Zug auf einem toten Gleis. Ein Russe wollte die Älteste (12) mitnehmen. Das konnten die Eltern grade so verhindern. Es gab damals eine einmalige Chance. An einer Wegeskreuzung kam der Transport zum Stehen. Man stand vor der Entscheidung, nach Schlesien in die Heimat zu gehen oder nach Bayern. Man entschied sich für Schlesien. Erneut die falsche Entscheidung.

Am 3. Juni 1945 war man wieder zu Hause, in Löwen. Das Haus war praktisch leer. Die Russen, bzw. die Polen hatten alles gestohlen. Die Russen griffen sich auch junge Mädchen, die nicht wieder zurückkamen. Wer jetzt genau das Haus ausgeräumt hatte, spielte keine Rolle mehr.

Das Land Polen hatte einen Teil seines östlichen Gebietes verloren, an die Russen. Und so verschoben sich die Grenzen nach Osaten. Eigentlich das gleiche Spiel wie heute. Die Russen geben sich mit ihrem Land nicht zufrieden und wollen mehr.

Die Polen waren aus Galizien vertrieben worden und „besetzten“ nun ihrerseits die deutschen Gebiete. Die Galizier waren – vorsichtig ausgedrückt – nicht eben zivilisiert. Eher primitiv. Sie wohnten im Untergeschoss, meine Großeltern mit den fünf Kindern im Obergeschoss. Das Verhältnis war katastrophal. Die Polen klauten die Wäsche, die vor dem Haus hing. Um sich überhaupt sicher zu fühlen, schob man von innen Stühle vor die Tür. Wenn die Zweitälteste mit der Kanne zum Wasserholen in Richtung Ortschaft ging und zurückkam, dann spuckten die Polen einfach aus Boshaftigkeit in die Kanne. Meine Tante durfte umdrehen und erneut Wasser holen. Die Russen waren zu dieser Zeit auch noch da. Wenn sich die Polen komplett danebenbenahmen, konnte man sich an die Russen wenden, die sich dann kümmerten.

Alle vier Mädchen hatten lange Zöpfe. Aber es gab kein Shampoo, keine Seife, nichts zum Anziehen. Die Situation war trostlos, die Stimmung gegen die Deutschen aufgeheizt. Man traute sich nicht mehr aus der Stadt. Die Deutschen hatten – obwohl in Deutschland wohnend – keinerlei Rechte mehr. 1945/1946 gab es keinen Schulbetrieb. Es kam aber noch schlimmer. 1946 mussten sich die Deutschen entscheiden: Entweder die polnische Staatsbürgerschaft annehmen, oder die Heimat verlassen. Deutsche mussten eine weiße Armbinde tragen. Dieses Zeichen des Hasses war freilich nichts gegen das, was zeitgleich im Internierungslager Lamsdorf geschah. Was dort – wohlgemerkt nach dem Krieg passierte – war nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges auf bestialische Weise. Schlesier wurden dort zusammengepfercht und von Lageraufpassern malträtiert, die in ihrem blinden Hass wie von Sinnen agierten. Meine Urgroßeltern sind in diesem Lager ermordet worden. Mein Uropa wurde definitiv erschossen. Bei meiner Uroma gehen die Meinungen leicht auseinander. Sie könnte erschossen, aber auch erschlagen worden sein. Durch die Folterungen und Gewalttaten starben 1000 von 9000 Gefangenen. Ein einziges Martyrium.

Ausgerechnet in dieser schweren Zeit starb 1946 mein Großvater Franz an Typhus. Es gab keinerlei Behandlungsmöglichkeiten. Wer typhus-krank war, wurde zu den Ordensschwestern ins Kloster zum Sterben gebracht. Den Sarg für ihn haben die Brüder zusammen gebastelt. Bei der Beerdigung fiel Muttel in Ohnmacht und musste aus der Kirche getragen werden. Typhus hatten einige der fünf Kinder, aber das war nicht lebensbedrohlich. Den Bruder der vier Schwestern hatte es aber schwer erwischt. Nachdem er wieder halbwegs genesen war, musste er das Laufen neu lernen.

Die Russen klauten nicht nur Privatbesitz. Ganze Industrieanlagen wurden abgebaut. Muttel arbeitete in einer Zuckerfabrik, die Opfer des russischen Raubzuges wurde. Ihre Probleme und die der fünf Kinder verschärften sich. Aber der Familienverbund funktionierte noch. Ein Onkel der Familie brachte einmal eine Fuhre Steinkohle und ein Pfund Butter vorbei. Trotzdem mussten die älteren Geschwister manchmal zum „Organisieren“ geschickt werden, damit man überleben konnte. In ausgebombten Häusern wurde nach Ess- und Heizbarem gesucht.

Die Russen waren nach dem Krieg gierig nach Uhren. Alle Uhren in den Haushalten wurden „beschlagnahmt“. Ein Onkel der Familie organisierte daraufhin einen Wecker. Die großen Geschwister wussten schon, dass die Russen auf Uhren aus waren. Als Muttel in der Arbeit und alle fünf Kinder allein zu Hause waren, hörte man die Russenstiefel im Treppenhaus. Geistesgegenwärtig versteckte die große Schwester den Wecker unter dem Sofakissten. Die Russen kamen herein und riefen „Uri, Uri“. Alle fünf Kinder saßen wie versteinert und mucksmäuschenstill da. Die Russen mussten nur noch genau hinhören. Ein Griff und der Wecker war weg. Und die Russen auch. Als Muttel heimkam, war sie heilfroh, dass alle fünf Kindern noch da und gesund waren. Der Wecker war nicht wichtig.

Muttel wollte aus Schlesien nicht weg. Sehr spät machte sie sich mit den Kindern auf den Weg. Letztlich erreichten sie Freital und das dortige Auffanglager, wo eine Entlausung stattfand. Die Weiterverteilung führte die Familie nach Freiberg und weiter nach Zug bei Freiberg. Muttel wollte nah an einer Stadt sein.

Jetzt hätte eigentlich eine Beruhigung der Lebensumstände eintreten können. Doch weit gefehlt. Das Leben wurde nicht leichter. Es war ja nicht so, dass die Flüchtlinge willkommen waren. Sie wurden in dieser Zeit voller Entbehrungen als zusätzliche Last empfunden. Es gab keine Flüchtlingsheime oder Barracken-Städte. Es gab keine Hilfsorganisationen. Es gab… nichts. Was also passierte jetzt? Per Verteilungsschlüssel bekam jede Stadt und jedes Dorf „seine“ Flüchtlinge zugewiesen. Das Sagen, welche Familie in welchem Haus untergebracht wurde, hatte der jeweilige Bürgermeister des Ortes. Und weil der Bürgermeister von Zug mit dem Bauer Weigold. in Streit geraten war und sich beide infolgedessen nicht besonders gut leiden konnten, wies er – gewissermaßen als Vergeltungsmaßnahme – genau diesem Bauern kurz vor Weihnachten 1946 unsere sechsköpfige Familie zu. Unser Bauer war natürlich hellauf begeistert und wollte sie nicht aufnehmen. Dass mit Weihnachten das Fest der Nächstenliebe vor der Tür stand – geschenkt. Er konnte aber nicht aus und ließ seinen Frust nach Herzenslust an Muttel und den fünf Kindern aus. Sie lebten in dem Bauernhaus zunächst zu sechst in einem einzigen Raum. Weil das kein Zustand war, wurde der Bürgermeister noch einmal vorstellig. Der Bauer musste einen zweiten Raum bereitstellen. Das verbesserte des Bauers Laune natürlich ungemein. Er war verheiratet und hatte Sohn und Tochter und ein Pferd. Die Kinder waren etwas freundlicher, das Pferd nicht.

1948 bekam man von einer Tante der Familie vier selbstgestrickte Schlüpfer geschenkt. Eine andere Quelle spricht von Fallschirmseide. Statt eines „Bundes“ wurde in das „Gestrick“ eine Metallspirale (3 oder 4mm dick) eingezogen. Das Tragen dieser Konstruktion war grauenhaft und verursachte bei allen Mädchen Schmerzen, weil die Metallspirale auf die blanke Haut traf.

Irgendwoher hatte Muttel einen Badeanzug bekommen. Im Winter wurde er für die ätesteste Schwester als Unterrock zurechtgemacht, im Sommer dann wieder zum Badeanzug umfunktioniert. Eine Turnhose, aus einem Zuckersack genäht, war so labil, dass die Schwester sich nicht traute, beim Sport richtig mit zumachen. Alle anderen Schwestern trugen ebenfalls umfunktionierte Zuckersäcke – als Unterhosen. Eine Nähmaschine gab es für all diese Näharbeiten natürlich nicht. Meine älteste Tante schwor sich, Näherin zu werden, um den Zustand zu verbessern.

Beim Bauer gab es in den zwei Räumen kein Wasser, dieses musste aus der Küche des Bauern geholt werden, Holz zum Heizen aus dem Wald. Ein Schuppen zur Lagerung? Das fiel nicht in die Bereitstellungspflicht des Bauern. Holz und Kohlen wurden in den zwei Räumen gelagert. Die Boshaftigkeit des Bauern wirkte sich auch auf sein Pferd aus, das er regelmäßig schlug. Das führte dazu, dass das Pferd genauso böse wurde wie der Bauer. Es schlug einmal so heftig nach dem Bruder aus, dass dieser schwer im Gesicht getroffen wurde. Einmal schwänzte er die Schule und schrieb sich die Entschuldigung selbst. Das las sich dann so: „Leider konnte mein Sohn gestern nicht in die Schule kommen. Ich musste Holz hacken.“ Die Lehrerin stattete daraufhin einen Hausbesuch ab. Das Donnerwetter hielt sich aber in Grenzen.

Der Bauernhof hatte eine weitere „Eigenart“. Das Tor zum Hof war immer geschlossen und durfte nie offen sein. Man konnte es auch von außen nicht öffnen. Weil drei der fünf Kinder zur Schule mussten, ergab sich das Problem, wie die drei Geschwister nach der Schule mittags auf den Hof kamen. Lösung: Die zwei jüngsten Geschwister mussten am Fenster stehen und aufpassen. Kamen die Geschwister zurück, steckte eines von ihnen einen Schuh unter dem Tor durch. Das war das Zeichen, dass man schnell über den Hof lief, um das Tor zu öffnen. Ein Problem ergab sich im Winter. Die Scheiben der Fenster waren vollständig vereist. Also standen meine Mama und ihr Bruder am Fenster und hauchten es an, damit ein Guckloch entstand. Passten die beiden nicht gut genug auf, verzögerte sich das Öffnen des Tores und die Geschwister mussten draußen frieren. Einfach draußen zu warten, um das Klopfen zu hören, war keine Option. Die Kinder hatten keine Winterkleidung.

Mit der Schule gab es ein Problem. Die beiden ältesten Mädchen konnten nur abwechselnd zur Schule gehen. Warum? Sie hatten zusammen nur ein paar Schuhe. Es war sicherlich nicht ungewöhnlich, dass Familien nach dem Krieg bettelarm waren. Aber die Herzlosigkeit, wie Muttel mit ihren fünf Kindern behandelt wurde, treibt einem die Tränen in die Augen. Für den Bauern gingen die Geschwister zum Kühehüten. Die Gegenleistung war eine Scheibe Butter- oder Fettbrot – egal ob ein Kind zum Kühehüten ging oder man zu dritt unterwegs war.

Gegenüber dem Bauernhof gab es einen alteingesessenen Schlesier. Als 1949 bei ihm eine Wohnung frei wurde, konnte unsere Familie bei der Familie Flemisch einziehen. Das allerdunkelste Kapitel war zu Ende. Man hatte jetzt Wasser in der Wohnung, es gab einen Schuppen und einen Keller. Natürlich musste Miete bezahlt werden, Witwenrente gab es nur für die zwei jüngsten Kinder. Die Miete betrug 10 Mark. Muttel musste ab 1950 also wieder arbeiten gehen, weil die Jüngste nun auch sechs Jahre geworden war und die Witwenrente entfiel. Zunächst arbeitete sie als Reinemachfrau ein Jahr in der „Pulvermühle“. Dort wurde Sprengstoff hergestellt. Entsprechend war das Gelände abgesichert und wurde von Hunden bewacht. Das Füttern fiel auch in ihr Aufgabengebiet. Später arbeitete sie dann bei der Bahn. Bei Arbeitskollegen sah sie, wie diese jeden Tag zur Arbeit ihr Brot mitbrachten. Und immer war auf dem Brot ein Belag. Sie erzählte diese Tatsache erstaunt ihren Kindern. Mama wie Kinder konnten nicht glauben, dass das möglich war. Sie waren nur trockenes Brot gewöhnt.

Einmal zu Ostern durfte meine Mama (acht oder neun Jahre alt) mit einer Freundin, deren Familie einen Bauernhof hatte, zusammen Ostereier suchen. Gefunden hat sie einige Eier, bekommen aber hat sie nichts, gar nichts. Wie kann man sich das erklären? Reine Boshaftigkeit? Egoismuns? Fehlende Nächstenliebe? Denn Bauern waren in der Regel gut situiert. Für unsere fünf Geschwister gab es nicht einmal einen Apfel. Damals fand sie das Verhalten ganz normal. Erst später ist ihr ein Licht aufgegangen, wie herzlos das war.

Die älteste Schwester hatte eine Sitznachbarin, deren Eltern einen Kohle-Handel hatte. Zu besonderen Anlässen brachte sie zwei Brikettes mit in die Schule und schenkte sie ihr.

Der nächste große Schicksalsschlag deutete sich bereits an. Muttel ging es schlechter. Der Krebs schlug im Sommer 1952 zu. Am 19.04.1953 war es dann so weit. Die Mama von fünf Kindern im Alter von 9, 11, 14, 18 und 21 Jahren starb im Alter von nur 44 Jahren. Die Halbwaisenrente betrug damals übrigens 35 Mark, die Vollwaisenrente 70 Mark. Ein Brot kostete je nach Größe eine Mark, eine Bahnfahrt nach Dresden 3,50 Mark. Ein Bus zwischen Zug und dem 5km entfernten Freiberg fuhr erst ab 1962. Eine Fahrt mit dem innerstädtischen Bus kostete 25 Pfennige.

Die älteste Schwester war bereits ausgezogen und arbeitete in einer Schneiderei in Freiberg. Sie musste als 19jährige bereits im Sommer 1952 zurückkommen, um den Haushalt zu führen und sich um die vier kleineren Geschwister zu kümmern. Auf dem Sterbebett musste sie ihrer Mama versprechen, die Geschwister zu betreuen. Onkels oder Tanten waren zwar in der Nähe, aber es kam keine Hilfe. Einer von zwei Onkels sollte die Vormundschaft für die vier minderjährigen Geschwister übernehmen. Beide lehnten ab. Für meine Mama hätte es Pflegeeltern gegeben, die sich anboten. Aber meine Mama wollte auf keinen Fall von ihren Geschwistern getrennt werden. Sie meint, sie wäre in diesem Fall „kaputtgegangen“. Die ärmlichen Verhältnisse verfestigten sich. Man war das unterste Ende am unteren sozialen Ende. Und das Ganze jetzt ohne Mama. Was das Dorf aber besonders gut konnte, war, mit Abstand und mit Argus-Augen zuzuschauen, wie die fünf Geschwister ums Überleben kämpften, acht Jahre nach Kriegsende. Geholfen hat niemand. Einen Fehltritt durfte man sich nicht erlauben. Auch damals gab es schon so etwas wie ein Jugendamt. Die leiseste Drohung von jemand Außemstehenden oder der Ältesten mit diesem Begiff – und schon standen die vier Geschwister stramm und befolgten das strenge, von der Ältesten eingeführte Regiment. Die Armut setzte sich fort. War man schon in Schlesien arm gewesen – man hatte nicht einmal einen Reichsempfänger – so zementierte sich die Armut jetzt ungebremst.

1950 kam meine Mama als Jüngste in die Schule. Im gleichen Jahr durfte meine Mama als Sechsjährige als Blumenmädchen bei einer Bauernhochzeit dabei sein. In einem geliehenen weißen Kleid und mit Schillerlocken. Erstmals war meine Mama in einer evangelischen Kirche. Denn Muttel, tief katholisch, hatte immer gesagt: In eine evangelische Kirche gehen wir nicht rein. Hier machte sie eine Ausnahme. Die Hochzeit war so ungewohnt üppig, dass meiner Mama schlecht wurde. Sie war nicht einmal den Anblick von Essen gewohnt, geschweige denn das Essen selbst. Ihre Schwester Gretel erlaubte sich daraufhin einen Tag später einen Scherz, denn man hatte etwas übriggebliebenes Essen mit nach Hause nehmen dürfen. Sie zog genüsslich ein Stück Fleisch aus der Tüte und hielt es meiner Mama vor die Nase. Sie musste sofohrt Richtung Plumsklo fliehen.

Ein Aufsatzheft – vermutlich aus der siebten Klasse, das heute leider nicht mehr existiert – zeigte, dass sie eine Einser-Schülerin war. Sie bekam für alle Aufsätze die Bestnote. Ein Heft voller Einsen.

Als die Älteste der fünf 1955 heiratete, sah meine Mama, damals elf Jahre, das erste Mal ein Radio und konnte sich nicht erklären, woher die Stimme kam. Bis dahin war das Einzige, was sie je an elektrischen Geräten gesehen hatte, eine Glühbirne. Der Ehemann der ältesten Schwester war von seiner Verwandtschaft für verrückt dafür erklärt worden, in diese Familie einzuheiraten. Er war herzensgut. Wir Cousins und Onkels spielten jede Menge Schach und Skat mit ihm. Er starb, viel zu zeitig, im Jahre 1985 jämmerlich an Krebs. Schmerzmittel oder Opiate waren in der „DDR“ eher Mangelware. Jedenfalls wurde mit dem neuen Mann im Haus 1955 die Zweizimmerwohnung zu klein. Die jetzt sechsköpfige Familie konnte in das Gemeindeamt umziehen. Die dortige Vierzimmerwohnung war eigentlich die Bürgermeisterwohnung. Die damalige Bürgermeisterin verzichtete aber auf die Wohnung, fand eine andere Lösung und half somit der Familie.

Die zweitälteste Schwester konnte durch die Kriegswirren mit elf Jahren nicht schreiben und rechnen und schämte sich dafür, als sie in die neue Klasse kam. Sie hätte 1947 eigentlich in die fünfte Klasse kommen müssen, wurde aber aus gegebenem Anlass nur in die dritte Klasse eingeschult. Der Lehrer, der sie vorsichtig testen wollte, fragte sie, was 2 x 2 ergibt. Sie wusste es nicht, und die Klasse hielt sich vor Lachen die Bäuche. Das Defizit in der Schule war bald aufgeholt. Sie war ehrgeizig, übersprang Klasse für Klasse und traf mit zwanzig Jahren im Jahre 1956 die richtige Entscheidung. Sie ging in den Westen. Problem: Im Osten war man schon mit 18 volljährig, im Westen aber erst mit 21. Daraus ergab sich eine gewisse Problematik. Auch damals waren die Grenzen faktisch schon streng überwacht. Nachdem meine Tante ein Jahr lang auf die Fahrkarte gespart hatte, reichte sie Urlaub ein, täuschte eine Erbschaft vor und reiste nach Köln. Nach drei Tagen bei einer Freundin kaufte sie sich eine Zeitung, las die Annoncen durch und ging in „Stellung“. Ihr Fahrrad hatte sie vor dem Lebewohl ihrer jüngsten Schwester geschenkt, meiner Mama. In den Briefen, die jetzt regelmäßig von West nach Ost geschickt wurden, war zeitlebens kein einziger Rechtschreibfehler mehr zu finden.

Obwohl meine Mama vor der Schule kein einziges Buch außer einer Fibel besaß, konnte sie bei ihrem Schuleintritt bereits lesen und langweilte sich in diesem Fach jahrelang. Aus dieser Langeweile heraus lernte sie während des Unterrichtes in der vierten Klasse die ganze Geschichte von Münchhausen auswendig. Beim anschließenden Schulaufsatz schrieb sie – leicht naiv – die Geschichte wortwörtlich auf. Die Lehrerim merkte das natürlich, weshalb meine Mama die halbe Geschichte vor der Klasse aufsagen musste. Erst danach bekam sie den verdienten Einser. Wurde das Lernen eines Gedichtes als Hausaufgabe aufgegeben, konnte meine Mama das Gedicht bereits auswändig. In einem alten Schulbuch fand sie das Lied von der Glocke von Friedrich Schiller und lernte es aus lauter Spaß auswändig. Das Buch war in altdeutscher Schrift geschrieben. Das konnte sie aber nicht bremsen. Aber der fünften Klasse überbrückte sie den Lehrerausfall in den unteren Klassen, in dem sie den Kleinen in diesen Stunden vorlas.

Meine Mama brachte einmal einen Schuleintrag mit nach Hause, weil sie kein Reissbrett dabeihatte. Die älteste Schwester als Vormund antwortete daraufhin, dass es leider nicht möglich war, Rosi nach Freiberg zum Einkaufen zu schicken. Begründung: Große Wäsche. Die Lehrerin ließ die Begründung gelten und löschte den Eintrag.
1961 heiratete die drittälteste Schwester einen Funker der Weißen Flotte und zog weg. Die älteste Schwester zog mit Mann und Kind von Zug nach Freiberg. Übrig blieben meine Mama und ihr Bruder. Von 1962-1965 wohnten sie zusammen in Zug in einer Zweizimmerwohnung im Haus des Tischlers Helbig. 1965 heirateten sowohl der Bruder als auch meine Mama. Denn es kündigte sich bereits der kleine Michi an.

Mamas Bruder wollte es der älteren Schwester gleichtun und in den Westen gehen. Als Zeitpunkt hatte er sich den 14. August 1961 ausgesucht. Er wollte nach Westberlin. Das war leider ein Tag zu spät. Am 13. August 1961 wurden die Grenzen dichtgemacht und in Berlin die Mauer gebaut. Das war ein Riesenpech.

In einer Spezialklasse der Gewerblichen Berufsschule Freiberg in der Bergstiftsgasse lernte meine Mama von 1958 bis 1960 den Beruf der Stenotypistin. Danach arbeitete sie als Stenotypistin ein Jahr beim Vordruck-Leit-Verlag in Freiberg, dort wurden Formulare für ganz Deutschland produziert. Der Spaß hielt sich in Grenzen. Das Gehalt war mit 240 Mark Brutto minimal, 160-180 Mark Netto reichten hinten und vorn nicht. Sie wechselte zum Bergbau- und Hüttenkombinat als Stenotypistin und verdiente 100 Mark mehr. Dort bearbeitete sie in der Feinzink in der Frauensteiner Straße im Büro für Neuererwesen eingehende Verbesserungsvorschläge. Von Zug nach Freiberg fuhr sie mit dem Rad, im Winter ging sie zu Fuß. Die Stelle wurde gestrichen, Mit 17 wechselte sie zu Reichen Zeche. Es war mit einer Stunde Fußmarsch ein sehr weiter Weg. Sie kümmerte sich um Schichtpläne, die Anwesenheitsliste und den Bücherverleih. Der Steiger war unter Tage, sie hatte einige Freiheiten. Dann kam das Angebot von der Plankommission in Berlin (Haus der Ministerien, im dritten Reich Luftwaffenministerium, seit der Wende Finanzministerium). Lustig, dass Luis im gleichen Gebäude ein Praktikum absolviert hat und dort auch dem Finanzminister Lindner begegnete. Mama blieb dort nur von Febrauar bis Mai 1962, obwohl sie ein Angebot hatte, dort zu bleiben. Ein älterer Herr Subotka, vielleicht 60 Jahre alt, gab ihr den wohlgemeinten Rat, wieder zu gehen. Mama war hin- und hergerissen, befolgte den Rat jedoch. Sie konnte wieder zurück, weil sie nach Berlin nur ausgeliehen war. In der Zinnhütte wurde eine Stelle im Verkauf frei. Sie lernte von 1962 bis 1964 Industriekaufmann in der Abendschule. Danach lief es gehaltlich etwas besser, es kam aber immer noch auf jede Mark an, sie hatte keine Chance zu sparen. Sie wollte einen Sparvertrag über 10 Mark machen, musste ihn aber wieder auflösen. Dann lernte sie unseren Papa in Binz beim Tanzen kennen. Er half dort im Ferienlager in einer Küche. Meine Mama wohnte zu der Zeit immer noch mit ihrem Bruder zusammen beim Helbig-Tischler in Zug. Mein Papa kam im Frühjahr 1965 von der Armee und mietete sich bei meiner späteren Ersatzmama Frau Grafe ein. Mamas Betrieb baute in der Freiberger Karl-Kegel-Straße einen Block mit Einraumwohnungen und bekam eine solche Wohnung mit 20qm in der Karl-Kegel-Str. 13, ganz oben links. Nach der Heirat im Oktober 1964 zogen meine Eltern zusammen.

Ich kam im Februar 1966 aber leider mit einer schweren Krankheit zur Welt. Die Geburt war schon schwierig genug. Meine Mama und ich mussten deshalb vierzehn Tage im Krankenhaus bleiben. Obwohl sichtlich schwer krank, wurde ich mit meiner Mama heimgeschickt. Anschließend wurde es schlimmer. Ich behielt nichts bei mir. Die dumme Hebamme meinte, dass sei bei Babys normal. Meine älteste Tante kam dann vorbei, um mich zu sehen. Ihre „Anweisung“ an ihre jüngste Schweister, mich sofort ins Krankenhaus zu bringen, hat mir in letzter Sekunde das Leben gerettet. Die Ärzte checkten zunächst meine Haut. Die war schon so ausgetrocknet, dass keine Spannung mehr da war. Sie ließ sich am Arm zusammendrücken und veharrte in diesem Zustand. Und so musste ich mit drei Wochen unters Messer. Der Chirurg hatte eine beruhigende Aussage für meine Eltern: Wenn der Kleine überlebt, wird er ein strammer Bursche. Mein Papa hatte, ob der vielen Schläuche, die nach der OP an mir herumhingen, keine Hoffnung. Von dieser Sache habe ich eine mächtige Narbe am Bauch als Erinnerung. Obwohl Hypertrophe Pylorusstenose bei Neugeborenen gar nicht so selten ist, habe ich bis heute keinen Menschen mit der gleichen Narbe gesehen. Bei einer allgemeinen Routine-Untersuchung bezeichnete ein Arzt vor ein paar Jahren die Narbe als Pfusch. Ich dachte mir: Du Vollidiot, dieser Narbe verdanke ich mein Leben.

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