Mittwoch, 22. Juni 2022, Sterben auf Italienisch – Der Untergang des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro im Jahr 1994

Sterben auf Italienisch – Der Untergang des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro

Am 30. November 1994 brach im Maschinenraum des alten rostigen Seelenverkäufers ein Brand aus – mitten im indischen Ozean. Mit 572 Passagieren und 408 Crew-Mitgliedern war das Schiff aus heutiger Sicht ein eher kleiner Vertreter seiner Art. Damals starben drei Passagiere, darunter ein Deutscher (an einem Herzinfarkt). Bevor wir uns aber mit den Augenzeugenberichten beschäftigen, schauen wir auf die unglückliche Vorgeschichte des Schiffes, dessen Bau 1939 begann. Schon allein das Alter des Schiffes hätte mich beim Buchen vorsichtig werden lassen. Aber 1994 hatte noch kaum jemand Internet, um sich die Historie des Schiffes anzuschauen. Aber es kommt noch viel schlimmer. Am 7. Oktober 1985 wurde das Schiff von Palästinensern entführt. Warum und wieso kann man sich unter diesem Link durchlesen, was schon für sich allein ein Politkrimi ersten Ranges darstellt. Wie Palästinenser ihren hässlichen Freiheitskampf führten, zeigt der barbarische Mord an dem teilgelähmten Touristen Leon Klinghoffer (69), jüdischer Abstammung, dem die Terroristen aus nächster Nähe in Brust und Kopf schossen. Anschließend zwangen sie den Schiffsfriseur und den Kellner, die Leiche des US-Amerikaners mit dem Rollstuhl über Bord zu werfen. Abartiger geht es kaum noch.

Wenden wir uns dem finalen Schicksal der Achille Lauro zu. Der folgende Bericht ist aus der Sicht zweier deutscher Passagiere verfasst, die ihre Erinnerungen aufgeschrieben haben.

Hurra, hurra, eine Reise nach Südafrika!

Es brauchte schon sehr viel Überredungskünste meines Mannes, bis ich dieser Reise zustimmte, die die erste und die letzte Kreuzfahrt unseres Lebens werden sollte. Die Überlegungen, dass mein Mann seine schwere Krankheit durch solch eine Reise besser verdrängen kann, oder sich sogar eine Besserung einstellt, siegten letztlich. Nach der Buchung trafen wir mit großer Freude alle Vorbereitungen. Wir hatten keine Vorstellung davon, wie eine Kreuzfahrt abläuft und hatten nur ab und an das Traumschiff im Fernsehen gesehen. So stellten wir uns natürlich unsere Traumreise vor. Unsere Erwartungen waren riesig. Wir kauften Garderobe für die festlichen Abende und auch Equipment für die Safari. Letztlich hatten wir viel zu viel Gepäck dabei.

18. November 1994, noch 12 Tage bis zur Katastrophe

Um 21.00 Uhr starteten wir mit dem Bus in München und kamen am nächsten Vormittag in Genua an. Auf der Busreise lernten wir Emmi und Siegfried P. kennen und verstanden uns auf Anhieb. Beim Ausladen des Gepäcks mussten unsere schönen Koffer schon mächtig leiden. Sie wurden hin- und her geschmissen und landeten im Dreck. Wir ärgerten uns, wussten zu dem Zeitpunkt aber nicht, dass die Lebenszeit der Koffer stark begrenzt sein würde. Eine Woche später würden sie in 5.000m Tiefe auf dem Grund des Indischen Ozeans liegen. Wir besichtigten anschließend das Schiff und hatten von dem rostigen blau-grauen Koloss einen sehr schlechten Eindruck. Viel lieber wären wir in das weiße Schiff am Kai gegenüber eingestiegen, wo alles so sauber und einladend erschien. Noch ernüchternder war der Blick in unsere Kabine. Das Waschbecken war total verschmutzt, die Toilette unsauber, die Dusche hatte keinen Vorhang, eine Steckdose war defekt. Am liebsten wäre ich umgekehrt. Etwas Ablenkung brachte das Auslaufen des Schiffes. Müde sanken wir nach dem Essen in unsere Betten. Der zweite Tag brachte viel Neues. Wir „eroberten“ das Schiff, suchten immer wieder den Weg zum Speisesaal und zur Rezeption, um Schmuck und Bargeld im Safe zu deponieren. Die ersten Tage waren ein großes Chaos, die Durchsagen verstand man nicht, die Lautsprecheransagen waren undeutlich, die Informationen spärlich. Es hieß, man solle nachsichtig sein. Die Crew an Bord sei neu, es müsse sich alles noch einspielen. Am nächsten Tag fand eine Rettungsübung statt, die aber eher ein Fototermin war, weil jeder mit seiner Schwimmweste fotografiert wurde. Kreuzfahrterfahrene Passagiere berichteten uns, dass Rettungsübungen auf anderen Schiffen ganz anders verliefen, dass man genau gezeigt bekommt, wo sich das Rettungsboot befindet, welche Nummer es hat und welche Besatzung für das Boot zuständig ist. Ich war sehr hellhörig, denn auch die Rettungsboote waren arg verrostet. Mein Mann meinte aber , dass das nicht so schlimm sei, denn wir bräuchten sie ja schließlich nicht. Was für ein Trugschluss. Überhaupt war das ganze Schiff am Rosten. Ständig wurde der Rost mit Farbe überstrichen. Die vorherige Entfernung des Rosts sparte man sich. Eine Stahlbürste kam nicht zum Einsatz. Es schien keinen Sinn zu haben. Es kursierte der Witz, dass nur die Farbe das Schiff überhaupt noch zusammenhalte.

Auch munkelte man, man solle die Aufzüge nicht benutzen, weil sie hängen blieben. Das störte uns nicht. Wir nutzten die Treppe, um ein wenig in Bewegung zu bleiben. Am Sonntagabend nach dem Abendessen trat das ein, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte und warum ich mich immer vor einer Seereise gedrückt hatte: Die See wurde stürmischer und ich wurde seekrank wie noch nie in meinem Leben. Ich wollte zwei Tage lang nichts außer sterben. Mein Mann wollte in Haifa heimfliegen, weil ich ihm so leidtat. Anschließend wurde die See ruhiger. Nach einem Ausflug nach Israel war ich wieder unter den Lebenden.

Donnerstag, 24. November 1994, Noch sechs Tage bis zur Katastrophe

Wir besichtigten Kairo. Die Fahrt war beeindruckend, das Elend, das uns entgegenschlug, umso mehr. Ich war sehr traurig. In den nächsten Tagen regten sich die Passagiere über so manche Dinge auf. Im Fitnessraum funktionierten drei von sieben Geräte nicht, das Netz auf dem Tennisplatz war kaputt und der Ball rollte immer auf eine Seite. Das Schiff hatte leichte Schlagseite. Die Crew meinte auf Befragen, dass die Ladung verrutscht sei. Martin Weber jedoch fragte bei einem Besuch der Brücke einen Offizier nach der Ursache. Hier war die Antwort, dass man auf dem offenen Meer mit Rohöl fahre und nur in Landnähe auf übliches Öl umstelle. Die Schräglage käme vom Bunkern des Treibstoffes…!?!? Es wehte ein schwacher Wind. Dunkle Rauchwolken zogen aus den Schornsteinen über den hinteren Teil des Schiffes. Rußflocken waren überall zu sehen. Wo man sich auch hinsetzte – die Kleidung war sofort beschmutzt.

Dienstag, 29. November 1994, Noch ein Tag bis zur Katastrophe

Wir frühstückten an Deck, wo ein Buffet aufgebaut war. Das Wetter war schön, die Temperaturen angenehm. Mehrere Passagiere berichteten, dass sich das Ruß-Problem weiter verschlimmerte. Einen eindrucksvollen Gottesdienst erlebten wir, als Emmi und ich der Arazzia-Lounge einer Messe mit vielen Südafrikaner beiwohnten. Wir waren wie eine große Familie. Jeder durfte aufstehen und seine Gedanken aussprechen. Es wurde Brot gereicht und Wein getrunken, wie beim Abendmahl. Der Tag verging wie die anderen vorher auch: Baden, Faulenzen. Die neuesten Nachrichten aus Deutschland lesen. Es gab ein Tontaubenschießen, das wir uns anschauten. Zur Teezeit traf man sich in der Scarabeo-Bar, zum Tanzen am Abend in der Arazzi-Bar.

Das Meer wurde unruhiger. Ich dachte an meine Seekrankheit und schlug meinem Mann vor, auf den kurzfristig angesetzten festlichen Abend zu verzichten. Zudem wunderten wir uns ein wenig, weil erst gestern ein Gala-Abend stattgefunden hatte. Es kribbelte mir schon wieder etwas im Magen. Martin hatte auch keine Lust auf das neuerliche große Fressen. Wir blieben etwas länger an Deck und gingen dann in unsere Kabinen. Wir lasen noch ein wenig, als es kurz nach 20.00 Uhr an der Kabinentür klopfte. Unsere besorgten Tischnachbarn fragten nach, ob alles in Ordnung sei, weil wir uns nicht abgemeldet hätten. Noch war alles bestens…. Ich ließ im Bad das Licht brennen, damit ich mich für den Fall einer neuerlichen Seekrankheit in der Nacht schnell orientieren konnte. Wir schliefen ein.

Mittwoch, 30. November 1994, 1.00 Uhr, Die Katastrophe

Wir wurden von einem lauten Knall geweckt. Andere Passagiere hörten eher ein schlagendes Geräusch, wie wenn eine große Stahlplatte umfällt. Wir jedoch vermuteten eine defekte Toilettenspülung. Denn in der Nacht zuvor hatten wir wegen eines solchen Defektes den Steward geholt, der das Problem mit einem Schlag gegen die Armaturen behob. Als der Lärm auf dem Gang lauter wurde, öffnete ich die Tür. Schräg gegenüber stand unser Steward und meinte: No Problem. Ich schloss die Tür wieder. Als aber nach einigen Minuten das monotone Geräusch der Motoren verstummte, das Licht ausging und die Klimaanlage ausfiel, war der Gang leer. Nur unser Kabinennachbar Herr Weber kam mit seiner Frau angezogen aus seiner Kabine. Hastig meinte er: „Ihr seid ja noch nicht angezogen. Brand im Maschinenraum. Nehmt eure Schwimmwesten und kommt.“ Von einem Alarm waren nur zwei undefinierbare Brummtöne zu hören. Die Webers hatten ihre Anoraks dabei. Die Vermutung, dass es an Deck kalt sein würde, war nicht aus der Luft gegriffen.

Ich nahm unseren Beutel, den wir immer auf Deck dabeihatten. Darin waren ein kleiner roter Geldbeutel und darin wiederum der Schlüssel zu unseren Koffern. Ich wollte noch die Handtasche mit Karten und anderen wichtigen Dokumenten holen. Wir waren aber ohne Licht und nur die dürftige Notbeleuchtung auf dem Flur schien zu uns herein. Ich war so aufgeregt, dass ich den Koffer nicht aufsperren konnte. Mein Mann drängelte, er hatte schnell die Jeans angezogen. So nahm ich nur seinen Bademantel mit und er noch die Schwimmwesten. Nichts wie raus hier. Mein Mann schloss die Kabinentür zu. Typisch deutsch und rückblickend ein wenig kleinkariert…

Auf dem Flur war niemand. Am Ende des Ganges kam uns ein Monteur mit blauem Overall entgegen, der uns über eine Eisentreppe nach oben führte. Die Treppe hatten wir vorher nie bemerkt. Offensichtlich wurde sie nur von der Crew benutzt. Im Schein der Taschenlampe sahen wir, dass alles alt, rostig und dreckig war. Ein Stockwerk höher stießen wir auf andere Passagiere. Manche liefen relativ ziellos in alle Richtungen. Wir gaben die Infos, die wir hatten, weiter. Es ging weiter zum Promenadendeck, wo wir das Ehepaar Neumann trafen. Sie berichteten von Brandgeruch. Noch gab es weder Hektik, noch Panik. Alsbald brach aber in den WCs das Chaos aus. Kein Licht, kein Strom, nichts ging mehr.

Mittwoch, 30. November 1994, 1.30 Uhr, Die Ungewissheit

Der Himmel war voller Sterne. Mir fiel ein, dass ich eh noch vorhatte, den Sternenhimmel zu genießen, aber doch nicht so. Und den Sonnenaufgang wollte ich auch sehen, aber bitte nicht heute. Die Hoffnung war, schnell in unsere Kabinen zurückzukommen. Das Schiff machte schon lange keine Fahrt mehr.

Je länger wir warteten, desto mehr machten es sich die Leute gemütlich. Sie holten sich Stühle und Liegen. Eine Frau in der Nähe brauchte ärztliche Betreuung. Informationen kamen keine. Jutta fing heftig an zu weinen. Sie meinte, sie habe so viel Angst. Ich nahm sie in den Arm und tröstete sie. Dabei gab es keinen echten Anlass zum Trost. Ich hoffte inständig, dass wir heil aus der Sache herauskommen. Man nimmt sich vor, stark zu sein. Panik ist in dieser Situation kein guter Begleiter. Ein paar Meter weiter war in diesem Moment bereits ein Mann an Herzversagen gestorben. Das wussten wir zum Glück aber nicht. Aber auch ich hatte später einen Weinkrampf. Diesmal musste mich Jutta trösten. Dann bemerkten wir, dass Unruhe aufkam. Jetzt passierte etwas Eigenartiges: Holländer, wir Deutschen und andere begannen… zu singen. Das lenkte ab, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Als es heller wurde, fanden wir Renate und Christian. Sie waren in Alufolie eigewickelt, barfuß und in Badesachen. Das Schiff hatte jetzt eine noch stärkere Schlagseite.

Mittwoch, 30. November 1994, 4.30 Uhr, Evakuierungsversuche und Chaos

Wir hörten eine Ansage, dass das Feuer unter Kontrolle sei. Wir könnten wegen des Rauches aber noch nicht zurück in unsere Kabinen. Wir waren erleichtert, obgleich wir ahnten, dass die Reise mit diesem Schiff wohl eher nicht weitergehen könne. Die Durchsage stellte sich als Lüge heraus. Es sollte wohl eine Beruhigungspille sein. Viele Menschen waren ohne Schuhe, ohne Brille und ohne Gebiss unterwegs. In die Kabinen durften wir nicht mehr. Hier und da wurde nachgefragt, ob Medikamente gebraucht werden. Nur einige wenige Menschen in unserer Umgebung mussten wegen Herz- oder Kreislaufschwäche behandelt werden. Und hier kam die Reiseleiterin Elfi H. ins Spiel, die sofort nach der Art der benötigten Tabletten fragte, um dann zu versuchen, beim Arzt etwas zu bekommen. Erfolglos.

Mittwoch, 30. November 1994, 5.30 Uhr, Brandgeruch

Am Horizont wurde es jetzt langsam heller. Beißender Brandgeruch zog an uns vorbei. Unser Verdacht: Verbrannter Kunststoff.

Mittwoch, 30. November 1994, 7.30 Uhr, Chaos

Jetzt hieß es, dass wir die Rettungsboote besteigen müssten. Aber keine Angst, es seien genug da, und es sei nur eine reine Vorsichtsmaßnahme… Renate S., ebenfalls Reiseleiterin, sorgte dafür, dass wir Deutschen beisammenblieben. Wir versuchten, an der Reling einen Platz zu finden. Dort stand jedoch das Wasser.

Später merkten wir, dass wir die letzten Passagiere waren, die vom Schiff evakuiert wurden. Aber wie heißt es so schön? Ist die Gruppe noch so klein…

Bei den Rettungsbooten wurden die oberen Halterungen an den Bootsverbindungen entfernt. Crew-Mitglieder suchten irgendwelche Seile zusammen. Klare Befehle oder Anweisungen gab es keine. Sachkenntnis war nicht vorhanden, keine Spur von einem eingespielten Team.

Wir versammelten uns am Fitnessraum und waren tief erschüttert, als wir an einem toten Passagier vorbeigehen mussten. Seine Frau war bei ihm und weinte. Und schon kamen Gedanken darüber auf, ob mein Mann und ich zusammenbleiben können, oder wir getrennt werden. Normalerweise heißt es: Erst die Kinder, dann die Alten, dann die Frauen. Hier galt das jedoch nicht.

Mittwoch, 30. November 1994, 09.00 Uhr, Ab in die Rettungsboote…

Nach einigem Warten gingen wir zwei Decks tiefer und sahen die ersten Rettungsboote – voll mit jungen Leuten von der Besatzung, zu unserem Erstaunen sogar mit Gepäck. Die Crew bestand aus vielen Philippinos und Spaniern. Alle waren angezogen, nicht wie unsereins im Nachthemd und Bademantel. Langsam kamen wir voran. Aber jedes Boot, zu dem wir kamen, war schon voll. Wir mussten das Schiff durchqueren, um die andere Seite zu erreichen. Die Angst nahm zu. Alles schrie. Passagiere aus Angst, wenn wieder ein Boot umkippte. Die Besatzungsmitglieder schrien, sie hatten – wie wir später erfuhren – noch nie eine Rettungsübung absolviert. Im Inneren des Schiffes ging es plötzlich nicht mehr weiter. Eine innere Panik stieg in mir hoch. Das Herz schlug lauter. Ich begann zu beten. Ich rief den Himmel an. Ich weinte leise vor mich hin und wollte doch stark sein. Die Koffer, die Kleidung, der Schmuck, das Geld – alles egal. Ich dachte nur noch an meinen Mann und mich, an meine Kinder zu Hause und… ans Überleben. Nach nun mindestens sieben Stunden des Wartens verließen wir das Schiffsinnere. Was sahen wir? Alle Boote waren weg. Wir sahen sie auf dem Wasser treiben. Ein Boot hing schräg an der Schiffswand. Es konnte nicht mehr bewegt werden. Wegen der Schlagseite war es äußerst schwierig, Boote zu Wasser zu lassen. Die Ausleger waren zu kurz. So rutschten die Boote an der Bordwand entlang und blieben an Bullaugen oder anderen Hindernissen hängen, um dann schnell zwei bis drei Meter in die Tiefe zu sausen. Angstschreie überall. Mit Ruderblättern versuchte die Crew, die Boote von der Bordwand wegzudrücken. Manchmal mit Erfolg. Oft zerbarsten aber auch die Ruderblätter. An den Trommeln der Stahltrossen der Rettungsboote konnte man deutlich sehen, dass hier schon lange nichts mehr bewegt wurde. Aus einem festhängenden Boot mussten die Passagiere über Leitern wieder an Deck klettern.

Beißender Rauch schlug uns entgegen. Am Heck drang Qualm aus allen Ritzen. Wir mussten uns Handtücher vor das Gesicht halten, um atmen zu können. Es dauerte alles viel zu lange. Wir stiegen noch eine Treppe tiefer. Immer wieder Staus und Gedränge. Jetzt hieß es, dass wir in die Rettungsinseln müssten, am Heck, wohlgemerkt. Ich hatte furchtbare Angst. Wir mussten über die Reling klettern und eine wacklige Strickleiter hinunterklettern, die aber nicht ganz bis zur Rettungsinsel reichte. Die Passagiere mussten sich das letzte Stück in die Insel fallen lassen. Viele Passagiere weinten und sahen sich außer Stande, die Leiter hinunterzusteigen. Aber die Zeit drängte. Wenn wir vom Schiff herunterkommen wollten, dann nur über diese Strickleitern. Es war unsere einzige Chance. Wäre es in diesem Moment zu einer Explosion gekommen, wären wir alle verloren gewesen.

Aber die Strickleitern waren nicht unbedingt die finale Rettung. Es kam zunächst noch schlimmer. Am Ende der Strickleiter standen unsere Männer, die zum einen die fallenden Menschen auffingen und zum anderen – was noch wichtiger war – die Leiter straff hielten, damit die Hinabkletternden nicht mit dem heißen Rumpf des Schiffes in Berührung kamen. Andere Strickleitern hingen wegen der Schlagseite völlig frei, so ca. 8 bis 10m. (Anmerkung der Redaktion: Ich bin in einem Klettergarten mal etwa acht Meter eine freihängende Strickleiter nach oben geklettert. Oben angekommen, brauchte ich zehn Minuten, um meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich war zunächst unfähig den Parcours weiter zu absolvieren. Aber jetzt weiter mit dem Bericht). Und so fielen auch einige ins Wasser. Sie wurden dann von den Insel-Insassen in die Inseln gezogen. Weil oben an den Strickleitern immer mehr Menschen ankamen, wurde beschlossen, zunächst die Frauen auf die Strickleitern zu lassen. Das ging eine Weile gut. Doch dann wurden die wartenden Männer unruhig. Jetzt waren plötzlich alle krank und wollten vorgelassen werden. Wer die ängstlichen Rufe „Ich kann mich nicht mehr halten“ hörte, wird sie nicht mehr vergessen.

Mittwoch, 30. November 1994, 10.30 Uhr, Strickleitern als letzter Ausweg

Die Männer leisteten hier schier Unglaubliches. Wo waren in dieser Situation die Crew-Mitglieder? Etwas später kam dann auch mein Mann. Oben stand weiterhin Günter Weber, der die Menschen zum Hinabsteigen ermunterte. Ältere Menschen auf einer Strickleiter? Im normalen Leben undenkbar. Ich war heilfroh, Emmi und Sigi und Jutta und Ernst in unserer Rettungsinsel zu wissen. Die Rettungsinseln wurden immer voller. Angstrufe wurden laut. „Legt endlich ab.“ Nach dem 19. oder 20. Passagier war die Rettungsinsel dann auch völlig überbelegt. Jetzt ging das große Sortieren los. Denn viele kauerten in einer unbequemen Lage.

Mittwoch, 30. November 1994, 11.00 Uhr, Die Rettungsinseln

Das Schaukeln der Insel war furchtbar. Man hat keinen festen Boden unter den Füßen. Jede Wellenbewegung führt man selbst mit aus. Noch schlimmer war, dass das Wasser uns ständig an den heißen Schiffsrumpf trieb. Der Versuch, sich mit den Händen vom Rumpf des Schiffes abzuschieben, war sinnlos. Das Gummigeräusch bei der Berührung war angsteinflößend. Das Fürchterlichste aber war, dass wir auf der Seite schwammen, auf der das Schiff Schlagseite hatte. Das Schiff war somit über uns. Wäre es umgekippt, wären wir von Tausenden von Tonnen Stahl beerdigt worden. Das sind Todesängste, die man niemandem wünscht. Und diese Todesängste dauerten ein oder zwei Stunden. Erst dann wurden die Inseln zusammengebunden, um ein Abtreiben zu verhindern. Die Seile zwischen den Inseln waren etwa vier bis sechs Meter lang. Durch die Wellenbewegungen drehten wir uns um die eigene Achse und stießen mit anderen Inseln zusammen. Seile rieben unter den Inseln entlang. Kein beruhigendes Gefühl. Den Seekranken unter uns ging es damit noch schlechter. Beutel wurden benutzt, ausgespült und wieder benutzt.

Dann kam ein Boot, an dem der Motor funktionierte. Es zog uns vom Schiff weg. Zwischendurch hatte ich bei Gott um einen schnellen Tod gebetet, falls es denn so weit sein sollte. Die See war unruhig, so dass ungefähr die Hälfte der Menschen seekrank wurde, mich eingeschlossen. Mir war so schlecht, dass ich glaubte, beim nächsten Mal, wo ich mich übergeben muss, würde ich ganz sicher Galle und Magen gemeinsam ausspucken. Ernst gab mir den Rat, einen Gegenstand anzuschauen, um nicht bewusstlos zu werden. Vom vielen Übergeben konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber die Ungewissheit, wie es jetzt hier draußen, mitten auf dem Meer, mit unserer Rettung weitergeht, führte zu neuer Furcht. Schließlich waren wir hier nicht auf dem Chiemsee, sondern im indischen Ozean. Schwer getroffen hatte es auch die Reiseleiterin Renate S. Die Last der Verantwortung und die Anstrengungen der letzten Stunden hatten dazu geführt, dass sie kreidebleich dalag und sich übergeben musste.

Einige Zeit war ich wie benebelt. Erst der Freudenschrei von Sigi, der ein Schiff sah, riss mich wieder aus meiner Trance. Ich fasste Hoffnung, doch dauerte es noch lange, bis das Schiff in seiner vollen Größe erkennbar war. Das heißt, nur die Menschen, die am Eingang der Insel saßen, konnten das Schiff sehen. Wir anderen lagen faktisch übereinander, denn unsere Rettungsinsel war völlig überfüllt. Man konnte sich nicht bewegen. Hinzu kam noch, dass man, wenn man in einer Rettungsinsel liegt und kaum ein paar Zentimeter über dem unruhigen Meeresspiegel ist, einen sehr eingeschränkten Horizont hat. Ein nahendes Schiff erkennt man erst sehr spät. Hier zeigt sich, dass die Erde eine Kugel ist.

Das nahende Schiff konnte man klar als Öltanker identifizieren. Dann kam ein Rettungsboot. Um dort hinzugelangen, mussten wir erst in andere Rettungsinseln umsteigen. Es hieß, die Insel zu sich heranzuziehen, wegen des Wellenganges genau abschätzen, wann man auf die andere Insel sprang und los. Oder man wurde geschubst oder gezerrt. Sieben Inseln schaukelten zwischen uns und dem Rettungsboot. Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Man hatte auch den Eindruck, dass wir wieder näher an die Achille Lauro herangetrieben worden waren. Aber der Abstand war noch beträchtlich. Deutlich konnte man aber sehen, dass hinten, vorn und seitlich starke Rauchwolken aus dem Schiff herausquollen. Auch am Oberdeck war dichter Rauch. Flammen waren vereinzelt zu sehen. Auf der Insel war es jetzt still. Jeder hing seinen Gedanken nach. Mit dem nächsten Boot mobilisierte man die letzten Kräfte, um die Insel zu verlassen und aufs Boot zu kommen. Auf dem Weg zum Schiff starb der Motor ab. Ein Seil hatte sich um die Schraube gewickelt. Ein Matrose löste das Problem, verausgabte sich bei seinem Tauchgang aber völlig. Das Hai-Problem kam noch dazu… Wieder hieß es: Umsteigen. Wir verließen das malaysische Boot und stiegen auf ein Rettungsboot der Achille Lauro um. In der Nähe sahen wir ein weiteres Rettungsboot mit dem Kapitän der Achille. Gerüchten zu folge hatte er viel zu spät SOS funken lassen, angeblich auf Weisung der Reederei. Andere Passagiere hatten ein Streitgespräch zwischen dem Kapitän und einem Besatzungsmitglied mitgehört. In einem Zeitungsinterview äußerten wir später unseren Verdacht, dass man das Schiff absichtlich versenkte. Und dies schon im Mittelmeer, wo auch schon ein Brand ausgebrochen war. Einige Kabinen waren anschließend nicht mehr bewohnbar.

Zwei weitere Schiffe waren plötzlich da – ein Zementtransporter und ein Frachter, die Bardou. Er hatte sich zwischen die Achille Lauro und unseren Inselverband geschoben. Endlich lief die Rettungsaktion. Das Rettungsboot fasste etwa 40 Personen. Unser Insel-Verband konnte somit nur teilweise aufgenommen werden. Wer zurückblieb, gönnte sich aus dem Notfallpaket ein paar Schluck Wasser und einen Traubenzucker. Zum Glück war es bewölkt, und es tröpfelte ein ganz klein wenig. Das Meer wurde jedoch rauer, die Achille Lauro brannte jetzt lichterloh. Mindestens drei Frachter waren in seiner Nähe.

Mit dem Boot wurden wir zur Hawaiian-King (Panama) gebracht. Das Schiff war riesig. Schon konnten wir Passagiere sehen, die uns vom Deck aus (7 bis 8m über dem Wasserspiegel) zuwinkten. Das Anlegemanöver dauerte und dauerte. Das Aussteigen war ein Kraftakt für Helfer und Passagiere. Wieder musste man wegen des Wellenganges einen günstigen Moment abwarten, um vom Boot auf die kleine Plattform des Schiffes zu springen. Auch hier gab es wieder ein Erlebnis der besonderen Art. Während wir wieder Strickleitern vor uns sahen, wollte die Crew der Achille Lauro die heruntergelassene Gangway nutzen. Deren Durchschnittsalter lag zwischen 18 und 30 Jahren. Bei uns waren die kranken und alten Leute. Auf dem Schiff mussten sich neunzehn Mann Besatzung um 900 Schiffbrüchige kümmern. Es gab für jeden von uns Spaghetti und Soße (Anmerkung der Redaktion: Ich hätte in dieser Situation wahrscheinlich nicht lange überlegt, ob die Soße vegetarisch ist…). Die Tanker-Crew war, angesichts der Küchenarbeit, völlig durchgeschwitzt. Um etwas zu trinken zu bekommen, musste man anstehen. Kurz vor dem Dunkelwerden kam ein Hubschrauber, der eine Runde drehte und wieder verschwand. Die Amerikaner! Bald räumten wir das vordere Deck, weil per Hubschrauber Decken und Lebensmittel abgeworfen werden sollten.

Mittwoch, 30. November 1994, 17.00 Uhr, In Sicherheit auf einem Öltanker

Mittlerweile hatten wir 14 Stunden Angst und Schrecken hinter uns. Um 17.00 Uhr waren wir auf dem Schiff und gerettet. Unsere zwei befreundeten Paare waren nicht seekrank geworden und kamen erst später auf das Schiff. Wir waren glücklich, denn es wurde bereits dunkel. Der Blick auf das Meer mit der lichterloh brennenden Achille Lauro war schauderhaft. Vor ungefähr sieben Stunden hatten wir das Schiff verlassen. Wir ließen uns auf dem Öltanker nieder und konnten das Erlebte nicht fassen. Wir meinten immer noch, geträumt zu haben und bald aufzuwachen. Später suchten wir einen Platz zum Schlafen. In einem Raum fanden wir einen Platz, auch wenn es nur ein Eisenboden war. Ein Crew-Mitglied warf einen Pappkarton weg. den schnappten wir uns. Die Schwimmwesten waren unsere Kopfkissen, die man auch nicht unbeobachtet lassen konnte. Angelica, eine Servicekraft von unserem Schiff, brauchte uns auf einem Tempotaschentuch Kekse und ein wenig später auch Milch in einem Tetrapack vorbei. Wie gesagt: Die Crew hatte teilweise ihre Taschen dabei. Dennoch war es eine nette Geste, wenn man bedenkt, dass das Personal in der nächsten Zeit wohl eher keine neuen Jobs haben würde. Wir trennten Christians Thermoschlafsack so auf, dass wir ihn als Unterlage auf den Eisenboden legen konnten und zu viert nutzten. Ein Müllsack diente ebenfalls als Kopfkissen. Die Zeit war gekommen, endlich ein wenig abzuschalten. Günter Weber merkte dann beim Hinlegen, dass er seinen Geldbeutel in der Gesäßtasche hatte. Es waren einige Dollar drin. Das könnte uns noch helfen. Mit einem Blick auf den klaren Sternenhimmel werden sich wohl einige gedacht haben: Du da oben, lass die Sache bitte gut für uns ausgehen.

Mittwoch, 30. November 1994, Mitternacht, Hubschrauber bringen Hilfsgüter

Die Hubschrauberpiloten riskierten beim Anflug Kopf und Kragen. Schwaches Licht und die Aufbauten auf Deck erschwerten bei Dunkelheit die Situation. Wir legten vorsichtshalber wieder unsere Schwimmwesten an. Die Ballen wurden abgeworfen, der Hubschrauber drehte ab und kam nach einiger Zeit wieder. Tatsächlich gelang es uns, einzuschlafen. Ein denkwürdiger Tag war zu Ende, das Abenteuer allerdings noch nicht.

Donnerstag, 01. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Ein neuer Tag beginnt

Die Lautsprecherdurchsage brachte die Information, dass wir an Deck bleiben sollten. Die Crew der Achille Lauro würde für das Frühstück sorgen. Ein Ei, eine Viertel Pampelmuse, Cornflakes und eine Scheibe Toast. Besser als nichts. Das Getränk in einem Plastikbecher war für zwei Personen. Die Demütigung, dass die Crew zuerst gefrühstückt hatte, nahmen wir hin.

Donnerstag, 01. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Umzug auf die Gettysburgh

Die neueste Information war, dass alle deutschen Passagiere auf das US-Kriegsschiff Gettysburgh gebracht würden. Das war eine sehr gute Nachricht. Denn knapp 1000 Menschen auf einem Öltanker mit Getränken und Essen zu versorgen, würde sehr bald nicht mehr funktionieren. Die Gettysburgh hatte im Abstand von 200m bereits festgemacht. Ein Beiboot der Marine war schon an unserem Tanker angekommen. Zwei Soldaten waren auf der Brücke, zwei auf der Gangway. Das Anlegen der Marine-Boote war für die geübten Soldaten eine leichte Übung. Jeder Handgriff saß, hier waren Fachleute am Werk. Als der Kapitän der Achille Lauro, Giuseppe Orsi, auf der Brücke gesichtet wurde, gab es ein lautstarkes Pfeifkonzert. (Anm.: Man muss ihm zumindest zugute halten, dass er das Schiff als Letzter verließ). Über die Gangway und mit unseren Plastikbeuteln in der Hand gelangten wir auf das Schiff. Aber auch hier musste Ordnung sein. Wir wurden nach Liste abgehakt. Auf der Gettyburgh trieb uns das „Willkommen an Bord“ und ein Händedruck die Tränen in die Augen. Wir konnten nur noch ein Danke stammeln. Ein Crew-Mitglied reichte uns frisches, kühles Wasser. Ein Glas Sekt hätte nicht besser schmecken können.

Donnerstag, 01. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Deutsch-Amerikanische Freundschaft

Über eine schmale Treppe erreichten wir den Hubschrauber-Hangar. Hier wurden wir mit allem Notwendigen versorgt: Socken, Sandalen, Unterhosen, T-Shirts, Hosen, Zahnbürsten, Seife. Es war an alles gedacht. Später erfuhren wir, dass all diese Dinge aus dem Privatbesitz der Crew stammten. Auf vorbereitete Zettel mussten wir unsere Namen schreiben, die uns dann mit Tesa auf den Handrücken geklebt wurden. Mit jedem Paar, bzw. jeder einzelnen Person ging ein Soldat ins Schiffsinnere, wo uns die Schlafräume gezeigt wurden. Das Labyrinth an schmalen Gängen und Treppen war gewöhnungsbedürftig. In den Schlafräumen waren jeweils drei Betten übereinander. Am Fernsehraum vorbei ging es in Richtung Duschen. Was für eine Wohltat. Kaum waren wir hergerichtet, wurde zum Essen gerufen. Also Treppe rauf, im Gang 5m nach links, und dann circa 20m nach rechts. Anstellen an der Schlange. Die Essensausgabe lief wie in einer Kantine ab. Tablett nehmen, Fisch, Fleisch, Reis, Kartoffeln, Gemüse, Kuchen, Obst aufladen, Besteck und im Speisesaal Platz nehmen. Wir suchten uns einen Vierertisch, an dem ein Soldat saß. Als unser befreundetes Pärchen auf unseren Tisch zusteuerte, bot der Soldat seinen Platz an und gesellte sich zu seinen Kameraden. Wir wollten das eigentlich nicht, aber ehe wir uns artikulieren konnten, saß der Soldat schon am Nebentisch. Wir konnten das alles, was um uns herum geschah, kaum fassen. Wir saßen auf einem amerikanischen Kriegsschiff. Um uns herum Soldaten aller Hautfarben. Es kam uns vor, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Nach der Geschirrabgabe suchten wir den Weg ans Deck. Überall freundliche Antworten auf unsere Fragen. Große Stahltüren mussten mit einem schweren Hebel und viel Kraft aufgedrückt werden. Scheinbar wirkte hier der unterschiedliche Druck. Auch an Deck herrschte die totale Bewegungsfreiheit. Es gab keine Beeinträchtigungen oder Einschränkungen. An der Reling entlang konnten wir das ganze Schiff umrunden. Wir sahen einen anderen Passagier mit einer Einwegkamera. Wo war die denn her? Aus dem Shop. Nichts wie hin. Die 12 Dollar (wir erinnern uns an den Geldbeutel) waren eine gute Investition, um ein paar Erinnerungsfotos zu schießen. Vom Hubschrauber-Deck aus konnten wir acht Rettungsschiffe sehen. Wir setzten uns auf die Abschussrampen für die Cruise-Missiles, blickten auf das Meer und sahen unseren Öltanker und das unendlich erscheinende Wasser. Jetzt, wo wir in Sicherheit waren, schämte sich niemand seiner Tränen, die ungewollt kamen. Am Nachmittag kehrte der Hubschrauber zurück. Wir mussten Mützen und andere Utensilien abnehmen. Es kam zu Gesprächen mit anderen Passagieren über den Hergang des Unglückes und der Evakuierung. Über die Achille Lauro war nichts Erfreuliches zu hören.

Wir kamen auch mit den Soldaten ins Gespräch, wobei die Verständigung nicht ganz einfach war. Sie zeigten große Anteilnahme und wollten von Dank nichts hören. Nach dem Abendessen gab es aus den Lautsprechern eine kurze Andacht für die Verstorbenen – in deutscher Sprache. Völlig ermüdet fielen wir in unsere Betten. Erst in der Nacht bemerkten wir einen Raum, in dem Soldaten auf dem Boden und in den Bänken schliefen. Uns ging ein Licht auf. Sie hatten ihre Betten für uns freigeräumt. Wir waren perplex und sehr bewegt.

Freitag, 02. Dezember 1994, 6.00 Uhr, Frühstück

Die Lautsprecherdurchsage verriet, dass ein neuer Tag begann. Alles ging sehr geordnet zu. Die WCs wurden von Männlein und Weiblein gemeinsam genutzt. Waschen und Duschen war für die Damen ein Stockwerk höher. Im Speisesaal sahen wir eine Schlange, auch mit Soldaten. Aus Respekt verzichteten wir zunächst auf das Frühstück und gingen auf das Deck. Nach kurzem Gedankenaustausch mit unseren Freunden gingen wir dann doch zum Frühstücken. Die Soldaten begrüßten uns wie alte Bekannte. Wir fühlten uns wohl und geborgen.

Wenig später startete wieder der Hubschrauber. Das Meer um das Achille-Wrack wurde weiterhin nach Vermissten abgesucht. Ein Offizier, der gut Deutsch konnte, fragte uns nach dem Hergang des Unglücks. Wir schilderten es ihm. Er war eine ganze Zeit lang sprachlos. Wir stellten fest, dass wir uns aus dem Unglücksgebiet noch nicht wegbewegt hatten. Dabei hatten wir doch am Vorabend gehört, wie das Schiff Fahrt aufgenommen hatte. Die Erklärung war, dass die Gettysburgh eine Runde um die Achille Lauro gedreht hatte. Auch zwischen uns Passagieren wurde viel diskutiert. Die Zeit verging schnell. Um 14.00 Uhr nahmen wir auf dem Hubschrauber-Deck an einer Gedenkfeier für die Toten teil. Ein Rednerpult und eine Orgel waren aufgestellt. Soldaten erschienen in weißer Uniform. Die Witwe des verstorbenen Berliners und deren Bekannte nahmen auf dem Stühlen Platz. Der Bordgeistliche sprach in Deutsch. Gewandt an die Witwe sagte er: „Sie haben einen geliebten Menschen verloren, aber viele Freunde gewonnen.“ Dann sprach der Kapitän. Elfi H. übersetzte. Danach übergab der Kapitän der Witwe eine Seekarte mit allen Eintragungen und ein Sternenbanner. Auf der Orgel wurde leise Trauermusik gespielt. Ein Matrose blies zum Abschluss ein Trompetensolo. Wir waren tief bewegt.

Wir beschlossen, uns die Brücke anzuschauen. Gitterstege, Eisentreppen. Am Ende mussten wir doch einen Matrosen nach dem Weg fragen. Er ließ seine Arbeit ruhen und begleitete uns auf die Plattform unter der Brücke. Hier blies ein frischer Wind, und eine Wache war vor dem feststehenden Fernrohr postiert. Der Soldat war mit einem Headset „bewaffnet“. Nach einer kurzen Begrüßung öffnete sich die Tür. Wir waren drin. Die Technik war beeindruckend. Alles wurde uns erklärt. Radar, Steuerungs- und Ortungsgeräte. Kein Vergleich zur Brücke auf der Achille Lauro, die wir uns ja auch angeschaut hatten. Hier, von der Brücke aus, konnten wir ermessen, auf was für einem gewaltigen Schiff wir uns befanden. Vor Verlassen der Brücke mussten wir einen Bericht zu den Ereignissen abgeben. Auch hier: Ungläubiges Staunen. Auch den Hubschrauber besichtigten wir. Die Rotorblätter wurden gewaschen, das Heck eingeklappt. Danach wurde der Hubschrauber auf einer Schiene in den Hangar geschoben. Wir gingen wieder auf das Deck zu unserem Lieblingsplatz – den Abschussrampen. Wie die Reise weiterging, wussten wir noch nicht. Wir erfuhren aber, dass die Achille Lauro um 17.20 Uhr gesunken sei. Da war er wieder – der bohrende Schmerz. Der Tag ging wie gewohnt zu Ende. Ab jetzt hieß es allerdings: Wasser sparen.

Samstag, 03. Dezember 1994, 7.30 Uhr, Frühstück

Auf Deck fand eine Routine-Übung des Hubschraubers statt. Ein Soldat stand bewaffnet neben dem landenden Hubschrauber. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen der Haie. Bei der Mittagessenausgabe halfen deutsche Schiffbrüchige. Auch einige Matrosen und sogar der Kapitän waren dabei. Es gab… Sauerkraut. Im zweiten Weltkrieg nannten die Amerikaner die deutschen Soldaten wegen ihrer Vorliebe zum Weißkraut abwertend Kraut. Das war eine Beleidigung. Dass wir auf diesem US-Kriegsschiff Seite an Seite mit amerikanischen Soldaten standen bzw. saßen, zeigt, dass von diesem historischen Wahnsinn nur noch die Sache mit dem Sauerkraut in den Köpfen geblieben ist.

Um 15.00 Uhr hatte die Crew eine Grillparty als Abschiedsparty angesetzt. Es gab Grillfleisch, Hamburger, Käse, Salate und Getränke. Alles erschien total normal. Dabei waren wir hier auf einem Kreuzer, und nicht auf einem Kreuzfahrtschiff. Wir trugen uns ins Kapitäns-Buch ein. Der Kapitän erklärte uns, was am nächsten Tag passieren wird. Renate S. übersetzte die Rede und bedankte sich in unserem Namen bei der Crew. Anschließend: Drei Minuten Applaus unsererseits. Die Mannschaft war bei der Party nicht in Uniform dabei, sondern in Shirts, total ungezwungen. Wir trällerten noch ein Happy Birthday für Elli H. Auch unsere junge deutsche Ärztin wurde mit einem Geschenk bedacht. Noch während der Fete durften wir die „Zentrale“ besichtigen. Als Landratten trauten wir unseren Augen nicht. Bis zu 1m große Bildschirme. Radaranlagen für Luft, Wasser und Unterwasser. Per Knopfdruck leuchteten auf einem Bildschirm Punkte auf – die Standorte der anderen US-Schiffe. Anschließend war die Fete immer noch im Gange. Sogar Federball wurde gespielt. Die Temperaturen waren auch am Abend angenehm. Wir erzählten uns sogar Witze.

Sonntag, 04. Dezember 1994, Djibouti

Die Aussicht, heute von Bord zu gehen und an Land zu gelangen, ließ uns schon um 5.30 Uhr aus den Betten springen. Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten ein. Wenn man überlegt, mit wieviel Gepäck wir die Reise begonnen hatten, und mit wie wenig eigenen Dingen wir nach Hause kommen würden – unfassbar. Um 6.15 Uhr waren wir fertig. Die Matrosen-Kleidung – wenn nicht mehr gebraucht – warfen wir in bereitstehende Säcke. Auf dem Deck startete wieder der Hubschrauber. Da hieß es, alles festzuhalten, was nicht niet- und nagelfest ist. Wie angekündigt kam der Hubschrauber mit Pressevertretern und dem deutschen Botschafter von Djibouti zurück. Wir hielten uns im Hintergrund und bedankten uns bei den Soldaten, die den Dank nicht annehmen wollten. Alles sei eine Ehre für sie, eine Selbstverständlichkeit. Dann wurden wir von amerikanischen Journalisten gebeten, uns doch noch fotografieren zu lassen. Klassisch, an der Reling, mit Sternenbanner im Hintergrund.

Bei der Einfahrt in den Hafen sahen wir, dass unser Begleitschiff Nr.40 zu uns aufgeschlossen hatte. Es fuhr mit angetretener Mannschaft in den Hafen ein. Busse, französische Soldaten und Presse erwarteten uns bereits an der Anlegestelle. Jetzt hieß es Abschiednehmen, von „Lotion“, dem Bäcker und vom Computer-Offizier. Es fiel uns immer schwerer, „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Zuerst verließen die Kranken das Schiff. Die ganze Tragödie wurde wieder augenscheinlich. Jeder Passagier, der von Bord ging, wurde noch auf dem Schiff vom Botschafter begrüßt und vom 1. Offizier auf einer Liste abgehakt. Der Kapitän ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen von uns einzeln und mit guten Wünschen für Weihnachten und das neue Jahr zu verabschieden. Unten an der Gangway winkten wir ein letztes Mal nach oben – bevor wir die Busse bestiegen. Natürlich schossen wir von „unserem“ Schiff noch ein letztes Foto. Ziel unserer Busfahrt war das Sheraton-Hotel. Alle Schiffbrüchigen versammelten sich dort in einem Nebenraum. Unterwäsche wurde ebenso ausgeteilt wie vorläufige Ausweispapiere. Diese Prozedur zog sich hin, auch wenn sich alle Beteiligten große Mühe gaben. Nach einem sehr guten Mittagsbuffet erhielten wir Trainingsanzüge und wenig später 100 Dollar „Kopfgeld“. Später gab es noch Strümpfe, Turnschuhe und T-Shirts. Dann nahmen wir den großen Hotelpool in Beschlag. Einige von uns hatten ihre Badesachen ja noch… Andere stiegen einfach in Unterwäsche ins Wasser. Hier im Hotelgarten drehte auch RTL einen Beitrag zum Unglück. Nach einem wiederum üppigen Abendessen schalteten wir auf unserem Zimmer den Fernseher an. Die „Bardou“ lief ein. Wir erkannten unsere Bekannten wieder. Welche Freude, als sie um 2.00 Uhr in der Früh zu uns stießen.

Montag, 05. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Heimflug über Rom

Nach einem kleinen Imbiss mit Kaffee und Säften fuhr der Bus bereits um 6.00 Uhr zum Flughafen. Es fielen einige Regentropfen. Der Tag in Afrika begann. Als wir am Flughafen eintrafen, war die Al Italia-Maschine gerade gelandet. Wir mussten noch ein Formular ausfüllen und wurden dann in kleinen Gruppen aus dem Abfertigungsgebäude herausgeführt, die Kranken zuerst. Um 8.20 Uhr saßen wir im Flieger. Die deutsche Zeit war 6.20 Uhr. Mit der Boeing 747 überflogen wir um 10.00 Uhr Luxor am Nil. Kreta sichteten wir um 11.00 Uhr. Europa hatte uns wieder. Der Service an Bord war tadellos. Es gab keine Limits, es fehlte an nichts. Um 13.00 Uhr landeten wir in Rom. Die Presse hatte man vor uns abgeschirmt und in einen Bus verfrachtet. So genau sollte das italienische Debakel jetzt wohl doch nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Ein ganzes Gate war für uns reserviert und abgesperrt worden. Gleich neben dem Eingang lagen Mäntel und Jacken bereit, nach Größen geordnet. Schließlich war in Europa tiefster Winter, und wir hatten ja nichts… Es gab Getränke und Sandwiches, Eis und auch ein paar deutsche Zeitungen. Am Schalter wurde uns mitgeteilt, dass unsere Heimreise nach München geklärt sei. Ein Herr Bernard werde uns in München in Empfang nehmen. Um 15.12 Uhr saßen wir in einer Boeing 737-400 von Lauda-Air. Wir starteten um ca. 15.30 Uhr. Kaum war in der Luft das Zeichen zum Abschnallen erklungen, kam ein Team des Reiseveranstalters Maritim und verteilte Umschläge. Inhalt: Ein Anschreiben und ein Verrechnungsscheck mit dem gesamten Reisepreis.  Von der Quelle-Reiseleitung erhielt jeder eine Mappe mit Unterlagen für die Versicherung. Die an Bord verfügbaren österreichischen Zeitungen berichteten bereits über den Untergang des Schiffes. So war es ein kurzweiliger zweistündiger Flug, bei dem wir auch über Schadenersatz usw. diskutierten. Wir verabschiedeten uns am Flughafen München von unseren Bekannten, mit denen wir in den letzten Tagen Freude und Ängste geteilt hatten. Wir hatten nicht vor, mit der Presse zu sprechen, waren aber dem Ansturm kaum gewachsen. Erst ein Sicherheitsbeamter schleuste uns dann seitlich zum Ausgang, denn auf unser Gepäck mussten wir schließlich nicht warten. Wir erinnern uns: Indischer Ozean, 70km vor der Küste, 5000m auf dem Meeresgrund, vermutlich ist es aber verbrannt… Vor dem Eingang warteten unsere Kinder und Verwandte und Bekannte. Die Freude auf beiden Seiten kannte keine Grenzen.

Vielen Dank an Hildegard May aus Winhöring für die Bereitstellung ihrer Geschichte.

Nachbetrachtung

Das Blickpunkt-Wochenblatt berichtete in seiner Ausgabe vom 22. November 1995 über den Fall. Ein Musterprozess war zu diesem Zeitpunkt im Gange. Ausgang ungewiss. Von Schmerzensgeld wollte der Richter damals nichts wissen. Die Versicherungen zogen sich auf die Position zurück, dass die Passagiere nicht nachweisen könnten, welches Hab und Gut sie auf dem Schiff dabeihatten. FOCUS berichtete am 12.12.1994 in seiner Ausgabe Nr. 50 über das Unglück und stellte die Hochseetüchtigkeit des Schiffes in Frage. Zu Wort kommt Jürgen Lohmeyer (damals 51) und ein Spitzentechniker aus Deggendorf. Ein 30cm x 30cm großes Peilgerät verschaffte ihm damals Zugang zur Brücke. Mit dem Peilgerät war er der Technik des Schiffes weit überlegen. Während der Kapitän noch mit manuellem Kompass navigierte und mit Stift und Lineal in den Karten herumzeichnete, war das Peilgerät per Knopfdruck in der Lage, den besten Satelliten anzupeilen und so in Sekundenschnelle Position, Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes festzustellen.

Die Familie May aus Winhöring bekam von ihrer Hausratversicherung lediglich einen Kulanzbetrag. Als Ausgleich boten Veranstalter und Reederei eine Ersatz-Kreuzfahrt an. Kommentar: Nie wieder betreten wir ein Schiff. Dem Kapitän der Gettysburg sind die deutschen Passagiere immer noch dankbar für die Rettung. Der Kapitän und seine Frau werden in Abständen zu den regelmäßigen Überlebenden-Treffen eingeladen. Er spricht dann immer davon, dass „wir eine große Familie geworden sind“. Das erste Treffen war schon ein Jahr später in Malente. Seitdem trifft man sich aller zwei bis drei Jahre in einer anderen Stadt. In diesem Jahr war ein Treffen in Altötting geplant, das wegen Corona und der Kriegssituation verschoben wurde.

Wer gedacht hatte, dass die zivile Schifffahrt aus einem solchen Unglück gelernt hätte, irrt sich. Mit der Costa Concordia, natürlich auch ein italienisches Schiff, natürlich auch mit einem italienischen Kapitän, schloss sich im Jahre 2012 das nächste Unglück an. Aber spätestens ab da waren die Kreuzfahrttouristen, und vor allem die Amerikaner, gewarnt. Die erste Frage beim Betreten eines Reisebüros für das Buchen einer bestimmten Kreuzfahrt lautete fortan: Ist der Kapitän ein Italiener?

Italienischer Seelenverkäufer, Achille Lauro, 1994:

Sterben auf Italienisch – Der Untergang des Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro

Am 30. November 1994 brach im Maschinenraum des alten rostigen Seelenverkäufers ein Brand aus – mitten im indischen Ozean. Mit 572 Passagieren und 408 Crew-Mitgliedern war das Schiff aus heutiger Sicht ein eher kleiner Vertreter seiner Art. Damals starben drei Passagiere, darunter ein Deutscher (an einem Herzinfarkt). Bevor wir uns aber mit den Augenzeugenberichten beschäftigen, schauen wir auf die unglückliche Vorgeschichte des Schiffes, dessen Bau 1939 begann. Schon allein das Alter des Schiffes hätte mich beim Buchen vorsichtig werden lassen. Aber 1994 hatte noch kaum jemand Internet, um sich die Historie des Schiffes anzuschauen. Aber es kommt noch viel schlimmer. Am 7. Oktober 1985 wurde das Schiff von Palästinensern entführt. Warum und wieso kann man sich unter diesem Link durchlesen, was schon für sich allein ein Politkrimi ersten Ranges darstellt. Wie Palästinenser ihren hässlichen Freiheitskampf führten, zeigt der barbarische Mord an dem teilgelähmten Touristen Leon Klinghoffer (69), jüdischer Abstammung, dem die Terroristen aus nächster Nähe in Brust und Kopf schossen. Anschließend zwangen sie den Schiffsfriseur und den Kellner, die Leiche des US-Amerikaners mit dem Rollstuhl über Bord zu werfen. Abartiger geht es kaum noch.

Wenden wir uns dem finalen Schicksal der Achille Lauro zu. Der folgende Bericht ist aus der Sicht zweier deutscher Passagiere verfasst, die ihre Erinnerungen aufgeschrieben haben.

Hurra, hurra, Reise nach Südafrika!

Es brauchte schon sehr viel Überredungskünste meines Mannes, bis ich dieser Reise zustimmte, die die erste und die letzte Kreuzfahrt unseres Lebens werden sollte. Die Überlegungen, dass mein Mann seine schwere Krankheit durch solch eine Reise besser verdrängen kann, oder sich sogar eine Besserung einstellt, siegten letztlich. Nach der Buchung trafen wir mit großer Freude alle Vorbereitungen. Wir hatten keine Vorstellung davon, wie eine Kreuzfahrt abläuft und hatten nur ab und an das Traumschiff im Fernsehen gesehen. So stellten wir uns natürlich unsere Traumreise vor. Unsere Erwartungen waren riesig. Wir kauften Garderobe für die festlichen Abende und auch Equipment für die Safari. Letztlich hatten wir viel zu viel Gepäck dabei.

18. November 1994, noch 12 Tage bis zur Katastrophe

Um 21.00 Uhr starteten wir mit dem Bus in München und kamen am nächsten Vormittag in Genua an. Auf der Busreise lernten wir Emmi und Siegfried P. kennen und verstanden uns auf Anhieb. Beim Ausladen des Gepäcks mussten unsere schönen Koffer schon mächtig leiden. Sie wurden hin- und her geschmissen und landeten im Dreck. Wir ärgerten uns, wussten zu dem Zeitpunkt aber nicht, dass die Lebenszeit der Koffer stark begrenzt sein würde. Eine Woche später würden sie in 5.000m Tiefe auf dem Grund des Indischen Ozeans liegen. Wir besichtigten anschließend das Schiff und hatten von dem rostigen blau-grauen Koloss einen sehr schlechten Eindruck. Viel lieber wären wir in das weiße Schiff am Kai gegenüber eingestiegen, wo alles so sauber und einladend erschien. Noch ernüchternder war der Blick in unsere Kabine. Das Waschbecken war total verschmutzt, die Toilette unsauber, die Dusche hatte keinen Vorhang, eine Steckdose war defekt. Am liebsten wäre ich umgekehrt. Etwas Ablenkung brachte das Auslaufen des Schiffes. Müde sanken wir nach dem Essen in unsere Betten. Der zweite Tag brachte viel Neues. Wir „eroberten“ das Schiff, suchten immer wieder den Weg zum Speisesaal und zur Rezeption, um Schmuck und Bargeld im Safe zu deponieren. Die ersten Tage waren ein großes Chaos, die Durchsagen verstand man nicht, die Lautsprecheransagen waren undeutlich, die Informationen spärlich. Es hieß, man solle nachsichtig sein. Die Crew an Bord sei neu, es müsse sich alles noch einspielen. Am nächsten Tag fand eine Rettungsübung statt, die aber eher ein Fototermin war, weil jeder mit seiner Schwimmweste fotografiert wurde. Kreuzfahrterfahrene Passagiere berichteten uns, dass Rettungsübungen auf anderen Schiffen ganz anders verliefen, dass man genau gezeigt bekommt, wo sich das Rettungsboot befindet, welche Nummer es hat und welche Besatzung für das Boot zuständig ist. Ich war sehr hellhörig, denn auch die Rettungsboote waren arg verrostet. Mein Mann meinte aber , dass das nicht so schlimm sei, denn wir bräuchten sie ja schließlich nicht. Was für ein Trugschluss. Überhaupt war das ganze Schiff am Rosten. Ständig wurde der Rost mit Farbe überstrichen. Die vorherige Entfernung des Rosts sparte man sich. Eine Stahlbürste kam nicht zum Einsatz. Es schien keinen Sinn zu haben. Es kursierte der Witz, dass nur die Farbe das Schiff überhaupt noch zusammenhalte.

Auch munkelte man, man solle die Aufzüge nicht benutzen, weil sie hängen blieben. Das störte uns nicht. Wir nutzten die Treppe, um ein wenig in Bewegung zu bleiben. Am Sonntagabend nach dem Abendessen trat das ein, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte und warum ich mich immer vor einer Seereise gedrückt hatte: Die See wurde stürmischer und ich wurde seekrank wie noch nie in meinem Leben. Ich wollte zwei Tage lang nichts außer sterben. Mein Mann wollte in Haifa heimfliegen, weil ich ihm so leidtat. Anschließend wurde die See ruhiger. Nach einem Ausflug nach Israel war ich wieder unter den Lebenden.

Donnerstag, 24. November 1994, Noch sechs Tage bis zur Katastrophe

Wir besichtigten Kairo. Die Fahrt war beeindruckend, das Elend, das uns entgegenschlug, umso mehr. Ich war sehr traurig. In den nächsten Tagen regten sich die Passagiere über so manche Dinge auf. Im Fitnessraum funktionierten drei von sieben Geräte nicht, das Netz auf dem Tennisplatz war kaputt und der Ball rollte immer auf eine Seite. Das Schiff hatte leichte Schlagseite. Die Crew meinte auf Befragen, dass die Ladung verrutscht sei. Martin Weber jedoch fragte bei einem Besuch der Brücke einen Offizier nach der Ursache. Hier war die Antwort, dass man auf dem offenen Meer mit Rohöl fahre und nur in Landnähe auf übliches Öl umstelle. Die Schräglage käme vom Bunkern des Treibstoffes…!?!? Es wehte ein schwacher Wind. Dunkle Rauchwolken zogen aus den Schornsteinen über den hinteren Teil des Schiffes. Rußflocken waren überall zu sehen. Wo man sich auch hinsetzte – die Kleidung war sofort beschmutzt.

Dienstag, 29. November 1994, Noch ein Tag bis zur Katastrophe

Wir frühstückten an Deck, wo ein Buffet aufgebaut war. Das Wetter war schön, die Temperaturen angenehm. Mehrere Passagiere berichteten, dass sich das Ruß-Problem weiter verschlimmerte. Einen eindrucksvollen Gottesdienst erlebten wir, als Emmi und ich der Arazzia-Lounge einer Messe mit vielen Südafrikaner beiwohnten. Wir waren wie eine große Familie. Jeder durfte aufstehen und seine Gedanken aussprechen. Es wurde Brot gereicht und Wein getrunken, wie beim Abendmahl. Der Tag verging wie die anderen vorher auch: Baden, Faulenzen. Die neuesten Nachrichten aus Deutschland lesen. Es gab ein Tontaubenschießen, das wir uns anschauten. Zur Teezeit traf man sich in der Scarabeo-Bar, zum Tanzen am Abend in der Arazzi-Bar.

Das Meer wurde unruhiger. Ich dachte an meine Seekrankheit und schlug meinem Mann vor, auf den kurzfristig angesetzten festlichen Abend zu verzichten. Zudem wunderten wir uns ein wenig, weil erst gestern ein Gala-Abend stattgefunden hatte. Es kribbelte mir schon wieder etwas im Magen. Martin hatte auch keine Lust auf das neuerliche große Fressen. Wir blieben etwas länger an Deck und gingen dann in unsere Kabinen. Wir lasen noch ein wenig, als es kurz nach 20.00 Uhr an der Kabinentür klopfte. Unsere besorgten Tischnachbarn fragten nach, ob alles in Ordnung sei, weil wir uns nicht abgemeldet hätten. Noch war alles bestens…. Ich ließ im Bad das Licht brennen, damit ich mich für den Fall einer neuerlichen Seekrankheit in der Nacht schnell orientieren konnte. Wir schliefen ein.

Mittwoch, 30. November 1994, 1.00 Uhr, Die Katastrophe

Wir wurden von einem lauten Knall geweckt. Andere Passagiere hörten eher ein schlagendes Geräusch, wie wenn eine große Stahlplatte umfällt. Wir jedoch vermuteten eine defekte Toilettenspülung. Denn in der Nacht zuvor hatten wir wegen eines solchen Defektes den Steward geholt, der das Problem mit einem Schlag gegen die Armaturen behob. Als der Lärm auf dem Gang lauter wurde, öffnete ich die Tür. Schräg gegenüber stand unser Steward und meinte: No Problem. Ich schloss die Tür wieder. Als aber nach einigen Minuten das monotone Geräusch der Motoren verstummte, das Licht ausging und die Klimaanlage ausfiel, war der Gang leer. Nur unser Kabinennachbar Herr Weber kam mit seiner Frau angezogen aus seiner Kabine. Hastig meinte er: „Ihr seid ja noch nicht angezogen. Brand im Maschinenraum. Nehmt eure Schwimmwesten und kommt.“ Von einem Alarm waren nur zwei undefinierbare Brummtöne zu hören. Die Webers hatten ihre Anoraks dabei. Die Vermutung, dass es an Deck kalt sein würde, war nicht aus der Luft gegriffen.

Ich nahm unseren Beutel, den wir immer auf Deck dabeihatten. Darin waren ein kleiner roter Geldbeutel und darin wiederum der Schlüssel zu unseren Koffern. Ich wollte noch die Handtasche mit Karten und anderen wichtigen Dokumenten holen. Wir waren aber ohne Licht und nur die dürftige Notbeleuchtung auf dem Flur schien zu uns herein. Ich war so aufgeregt, dass ich den Koffer nicht aufsperren konnte. Mein Mann drängelte, er hatte schnell die Jeans angezogen. So nahm ich nur seinen Bademantel mit und er noch die Schwimmwesten. Nichts wie raus hier. Mein Mann schloss die Kabinentür zu. Typisch deutsch und rückblickend ein wenig kleinkariert…

Auf dem Flur war niemand. Am Ende des Ganges kam uns ein Monteur mit blauem Overall entgegen, der uns über eine Eisentreppe nach oben führte. Die Treppe hatten wir vorher nie bemerkt. Offensichtlich wurde sie nur von der Crew benutzt. Im Schein der Taschenlampe sahen wir, dass alles alt, rostig und dreckig war. Ein Stockwerk höher stießen wir auf andere Passagiere. Manche liefen relativ ziellos in alle Richtungen. Wir gaben die Infos, die wir hatten, weiter. Es ging weiter zum Promenadendeck, wo wir das Ehepaar Neumann trafen. Sie berichteten von Brandgeruch. Noch gab es weder Hektik, noch Panik. Alsbald brach aber in den WCs das Chaos aus. Kein Licht, kein Strom, nichts ging mehr.

Mittwoch, 30. November 1994, 1.30 Uhr, Die Ungewissheit

Der Himmel war voller Sterne. Mir fiel ein, dass ich eh noch vorhatte, den Sternenhimmel zu genießen, aber doch nicht so. Und den Sonnenaufgang wollte ich auch sehen, aber bitte nicht heute. Die Hoffnung war, schnell in unsere Kabinen zurückzukommen. Das Schiff machte schon lange keine Fahrt mehr.

Je länger wir warteten, desto mehr machten es sich die Leute gemütlich. Sie holten sich Stühle und Liegen. Eine Frau in der Nähe brauchte ärztliche Betreuung. Informationen kamen keine. Jutta fing heftig an zu weinen. Sie meinte, sie habe so viel Angst. Ich nahm sie in den Arm und tröstete sie. Dabei gab es keinen echten Anlass zum Trost. Ich hoffte inständig, dass wir heil aus der Sache herauskommen. Man nimmt sich vor, stark zu sein. Panik ist in dieser Situation kein guter Begleiter. Ein paar Meter weiter war in diesem Moment bereits ein Mann an Herzversagen gestorben. Das wussten wir zum Glück aber nicht. Aber auch ich hatte später einen Weinkrampf. Diesmal musste mich Jutta trösten. Dann bemerkten wir, dass Unruhe aufkam. Jetzt passierte etwas Eigenartiges: Holländer, wir Deutschen und andere begannen… zu singen. Das lenkte ab, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Als es heller wurde, fanden wir Renate und Christian. Sie waren in Alufolie eigewickelt, barfuß und in Badesachen. Das Schiff hatte jetzt eine noch stärkere Schlagseite.

Mittwoch, 30. November 1994, 4.30 Uhr, Evakuierungsversuche und Chaos

Wir hörten eine Ansage, dass das Feuer unter Kontrolle sei. Wir könnten wegen des Rauches aber noch nicht zurück in unsere Kabinen. Wir waren erleichtert, obgleich wir ahnten, dass die Reise mit diesem Schiff wohl eher nicht weitergehen könne. Die Durchsage stellte sich als Lüge heraus. Es sollte wohl eine Beruhigungspille sein. Viele Menschen waren ohne Schuhe, ohne Brille und ohne Gebiss unterwegs. In die Kabinen durften wir nicht mehr. Hier und da wurde nachgefragt, ob Medikamente gebraucht werden. Nur einige wenige Menschen in unserer Umgebung mussten wegen Herz- oder Kreislaufschwäche behandelt werden. Und hier kam die Reiseleiterin Elfi H. ins Spiel, die sofort nach der Art der benötigten Tabletten fragte, um dann zu versuchen, beim Arzt etwas zu bekommen. Erfolglos.

Mittwoch, 30. November 1994, 5.30 Uhr, Brandgeruch

Am Horizont wurde es jetzt langsam heller. Beißender Brandgeruch zog an uns vorbei. Unser Verdacht: Verbrannter Kunststoff.

Mittwoch, 30. November 1994, 7.30 Uhr, Chaos

Jetzt hieß es, dass wir die Rettungsboote besteigen müssten. Aber keine Angst, es seien genug da, und es sei nur eine reine Vorsichtsmaßnahme… Renate S., ebenfalls Reiseleiterin, sorgte dafür, dass wir Deutschen beisammenblieben. Wir versuchten, an der Reling einen Platz zu finden. Dort stand jedoch das Wasser.

Später merkten wir, dass wir die letzten Passagiere waren, die vom Schiff evakuiert wurden. Aber wie heißt es so schön? Ist die Gruppe noch so klein…

Bei den Rettungsbooten wurden die oberen Halterungen an den Bootsverbindungen entfernt. Crew-Mitglieder suchten irgendwelche Seile zusammen. Klare Befehle oder Anweisungen gab es keine. Sachkenntnis war nicht vorhanden, keine Spur von einem eingespielten Team.

Wir versammelten uns am Fitnessraum und waren tief erschüttert, als wir an einem toten Passagier vorbeigehen mussten. Seine Frau war bei ihm und weinte. Und schon kamen Gedanken darüber auf, ob mein Mann und ich zusammenbleiben können, oder wir getrennt werden. Normalerweise heißt es: Erst die Kinder, dann die Alten, dann die Frauen. Hier galt das jedoch nicht.

Mittwoch, 30. November 1994, 09.00 Uhr, Ab in die Rettungsboote…

Nach einigem Warten gingen wir zwei Decks tiefer und sahen die ersten Rettungsboote – voll mit jungen Leuten von der Besatzung, zu unserem Erstaunen sogar mit Gepäck. Die Crew bestand aus vielen Philippinos und Spaniern. Alle waren angezogen, nicht wie unsereins im Nachthemd und Bademantel. Langsam kamen wir voran. Aber jedes Boot, zu dem wir kamen, war schon voll. Wir mussten das Schiff durchqueren, um die andere Seite zu erreichen. Die Angst nahm zu. Alles schrie. Passagiere aus Angst, wenn wieder ein Boot umkippte. Die Besatzungsmitglieder schrien, sie hatten – wie wir später erfuhren – noch nie eine Rettungsübung absolviert. Im Inneren des Schiffes ging es plötzlich nicht mehr weiter. Eine innere Panik stieg in mir hoch. Das Herz schlug lauter. Ich begann zu beten. Ich rief den Himmel an. Ich weinte leise vor mich hin und wollte doch stark sein. Die Koffer, die Kleidung, der Schmuck, das Geld – alles egal. Ich dachte nur noch an meinen Mann und mich, an meine Kinder zu Hause und… ans Überleben. Nach nun mindestens sieben Stunden des Wartens verließen wir das Schiffsinnere. Was sahen wir? Alle Boote waren weg. Wir sahen sie auf dem Wasser treiben. Ein Boot hing schräg an der Schiffswand. Es konnte nicht mehr bewegt werden. Wegen der Schlagseite war es äußerst schwierig, Boote zu Wasser zu lassen. Die Ausleger waren zu kurz. So rutschten die Boote an der Bordwand entlang und blieben an Bullaugen oder anderen Hindernissen hängen, um dann schnell zwei bis drei Meter in die Tiefe zu sausen. Angstschreie überall. Mit Ruderblättern versuchte die Crew, die Boote von der Bordwand wegzudrücken. Manchmal mit Erfolg. Oft zerbarsten aber auch die Ruderblätter. An den Trommeln der Stahltrossen der Rettungsboote konnte man deutlich sehen, dass hier schon lange nichts mehr bewegt wurde. Aus einem festhängenden Boot mussten die Passagiere über Leitern wieder an Deck klettern.

Beißender Rauch schlug uns entgegen. Am Heck drang Qualm aus allen Ritzen. Wir mussten uns Handtücher vor das Gesicht halten, um atmen zu können. Es dauerte alles viel zu lange. Wir stiegen noch eine Treppe tiefer. Immer wieder Staus und Gedränge. Jetzt hieß es, dass wir in die Rettungsinseln müssten, am Heck, wohlgemerkt. Ich hatte furchtbare Angst. Wir mussten über die Reling klettern und eine wacklige Strickleiter hinunterklettern, die aber nicht ganz bis zur Rettungsinsel reichte. Die Passagiere mussten sich das letzte Stück in die Insel fallen lassen. Viele Passagiere weinten und sahen sich außer Stande, die Leiter hinunterzusteigen. Aber die Zeit drängte. Wenn wir vom Schiff herunterkommen wollten, dann nur über diese Strickleitern. Es war unsere einzige Chance. Wäre es in diesem Moment zu einer Explosion gekommen, wären wir alle verloren gewesen.

Aber die Strickleitern waren nicht unbedingt die finale Rettung. Es kam zunächst noch schlimmer. Am Ende der Strickleiter standen unsere Männer, die zum einen die fallenden Menschen auffingen und zum anderen – was noch wichtiger war – die Leiter straff hielten, damit die Hinabkletternden nicht mit dem heißen Rumpf des Schiffes in Berührung kamen. Andere Strickleitern hingen wegen der Schlagseite völlig frei, so ca. 8 bis 10m. (Anmerkung der Redaktion: Ich bin in einem Klettergarten mal etwa acht Meter eine freihängende Strickleiter nach oben geklettert. Oben angekommen, brauchte ich zehn Minuten, um meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich war zunächst unfähig den Parcours weiter zu absolvieren. Aber jetzt weiter mit dem Bericht). Und so fielen auch einige ins Wasser. Sie wurden dann von den Insel-Insassen in die Inseln gezogen. Weil oben an den Strickleitern immer mehr Menschen ankamen, wurde beschlossen, zunächst die Frauen auf die Strickleitern zu lassen. Das ging eine Weile gut. Doch dann wurden die wartenden Männer unruhig. Jetzt waren plötzlich alle krank und wollten vorgelassen werden. Wer die ängstlichen Rufe „Ich kann mich nicht mehr halten“ hörte, wird sie nicht mehr vergessen.

Mittwoch, 30. November 1994, 10.30 Uhr, Strickleitern als letzter Ausweg

Die Männer leisteten hier schier Unglaubliches. Wo waren in dieser Situation die Crew-Mitglieder? Etwas später kam dann auch mein Mann. Oben stand weiterhin Günter Weber, der die Menschen zum Hinabsteigen ermunterte. Ältere Menschen auf einer Strickleiter? Im normalen Leben undenkbar. Ich war heilfroh, Emmi und Sigi und Jutta und Ernst in unserer Rettungsinsel zu wissen. Die Rettungsinseln wurden immer voller. Angstrufe wurden laut. „Legt endlich ab.“ Nach dem 19. oder 20. Passagier war die Rettungsinsel dann auch völlig überbelegt. Jetzt ging das große Sortieren los. Denn viele kauerten in einer unbequemen Lage.

Mittwoch, 30. November 1994, 11.00 Uhr, Die Rettungsinseln

Das Schaukeln der Insel war furchtbar. Man hat keinen festen Boden unter den Füßen. Jede Wellenbewegung führt man selbst mit aus. Noch schlimmer war, dass das Wasser uns ständig an den heißen Schiffsrumpf trieb. Der Versuch, sich mit den Händen vom Rumpf des Schiffes abzuschieben, war sinnlos. Das Gummigeräusch bei der Berührung war angsteinflößend. Das Fürchterlichste aber war, dass wir auf der Seite schwammen, auf der das Schiff Schlagseite hatte. Das Schiff war somit über uns. Wäre es umgekippt, wären wir von Tausenden von Tonnen Stahl beerdigt worden. Das sind Todesängste, die man niemandem wünscht. Und diese Todesängste dauerten ein oder zwei Stunden. Erst dann wurden die Inseln zusammengebunden, um ein Abtreiben zu verhindern. Die Seile zwischen den Inseln waren etwa vier bis sechs Meter lang. Durch die Wellenbewegungen drehten wir uns um die eigene Achse und stießen mit anderen Inseln zusammen. Seile rieben unter den Inseln entlang. Kein beruhigendes Gefühl. Den Seekranken unter uns ging es damit noch schlechter. Beutel wurden benutzt, ausgespült und wieder benutzt.

Dann kam ein Boot, an dem der Motor funktionierte. Es zog uns vom Schiff weg. Zwischendurch hatte ich bei Gott um einen schnellen Tod gebetet, falls es denn so weit sein sollte. Die See war unruhig, so dass ungefähr die Hälfte der Menschen seekrank wurde, mich eingeschlossen. Mir war so schlecht, dass ich glaubte, beim nächsten Mal, wo ich mich übergeben muss, würde ich ganz sicher Galle und Magen gemeinsam ausspucken. Ernst gab mir den Rat, einen Gegenstand anzuschauen, um nicht bewusstlos zu werden. Vom vielen Übergeben konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber die Ungewissheit, wie es jetzt hier draußen, mitten auf dem Meer, mit unserer Rettung weitergeht, führte zu neuer Furcht. Schließlich waren wir hier nicht auf dem Chiemsee, sondern im indischen Ozean. Schwer getroffen hatte es auch die Reiseleiterin Renate S. Die Last der Verantwortung und die Anstrengungen der letzten Stunden hatten dazu geführt, dass sie kreidebleich dalag und sich übergeben musste.

Einige Zeit war ich wie benebelt. Erst der Freudenschrei von Sigi, der ein Schiff sah, riss mich wieder aus meiner Trance. Ich fasste Hoffnung, doch dauerte es noch lange, bis das Schiff in seiner vollen Größe erkennbar war. Das heißt, nur die Menschen, die am Eingang der Insel saßen, konnten das Schiff sehen. Wir anderen lagen faktisch übereinander, denn unsere Rettungsinsel war völlig überfüllt. Man konnte sich nicht bewegen. Hinzu kam noch, dass man, wenn man in einer Rettungsinsel liegt und kaum ein paar Zentimeter über dem unruhigen Meeresspiegel ist, einen sehr eingeschränkten Horizont hat. Ein nahendes Schiff erkennt man erst sehr spät. Hier zeigt sich, dass die Erde eine Kugel ist.

Das nahende Schiff konnte man klar als Öltanker identifizieren. Dann kam ein Rettungsboot. Um dort hinzugelangen, mussten wir erst in andere Rettungsinseln umsteigen. Es hieß, die Insel zu sich heranzuziehen, wegen des Wellenganges genau abschätzen, wann man auf die andere Insel sprang und los. Oder man wurde geschubst oder gezerrt. Sieben Inseln schaukelten zwischen uns und dem Rettungsboot. Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Man hatte auch den Eindruck, dass wir wieder näher an die Achille Lauro herangetrieben worden waren. Aber der Abstand war noch beträchtlich. Deutlich konnte man aber sehen, dass hinten, vorn und seitlich starke Rauchwolken aus dem Schiff herausquollen. Auch am Oberdeck war dichter Rauch. Flammen waren vereinzelt zu sehen. Auf der Insel war es jetzt still. Jeder hing seinen Gedanken nach. Mit dem nächsten Boot mobilisierte man die letzten Kräfte, um die Insel zu verlassen und aufs Boot zu kommen. Auf dem Weg zum Schiff starb der Motor ab. Ein Seil hatte sich um die Schraube gewickelt. Ein Matrose löste das Problem, verausgabte sich bei seinem Tauchgang aber völlig. Das Hai-Problem kam noch dazu… Wieder hieß es: Umsteigen. Wir verließen das malaysische Boot und stiegen auf ein Rettungsboot der Achille Lauro um. In der Nähe sahen wir ein weiteres Rettungsboot mit dem Kapitän der Achille. Gerüchten zu folge hatte er viel zu spät SOS funken lassen, angeblich auf Weisung der Reederei. Andere Passagiere hatten ein Streitgespräch zwischen dem Kapitän und einem Besatzungsmitglied mitgehört. In einem Zeitungsinterview äußerten wir später unseren Verdacht, dass man das Schiff absichtlich versenkte. Und dies schon im Mittelmeer, wo auch schon ein Brand ausgebrochen war. Einige Kabinen waren anschließend nicht mehr bewohnbar.

Zwei weitere Schiffe waren plötzlich da – ein Zementtransporter und ein Frachter, die Bardou. Er hatte sich zwischen die Achille Lauro und unseren Inselverband geschoben. Endlich lief die Rettungsaktion. Das Rettungsboot fasste etwa 40 Personen. Unser Insel-Verband konnte somit nur teilweise aufgenommen werden. Wer zurückblieb, gönnte sich aus dem Notfallpaket ein paar Schluck Wasser und einen Traubenzucker. Zum Glück war es bewölkt, und es tröpfelte ein ganz klein wenig. Das Meer wurde jedoch rauer, die Achille Lauro brannte jetzt lichterloh. Mindestens drei Frachter waren in seiner Nähe.

Mit dem Boot wurden wir zur Hawaiian-King (Panama) gebracht. Das Schiff war riesig. Schon konnten wir Passagiere sehen, die uns vom Deck aus (7 bis 8m über dem Wasserspiegel) zuwinkten. Das Anlegemanöver dauerte und dauerte. Das Aussteigen war ein Kraftakt für Helfer und Passagiere. Wieder musste man wegen des Wellenganges einen günstigen Moment abwarten, um vom Boot auf die kleine Plattform des Schiffes zu springen. Auch hier gab es wieder ein Erlebnis der besonderen Art. Während wir wieder Strickleitern vor uns sahen, wollte die Crew der Achille Lauro die heruntergelassene Gangway nutzen. Deren Durchschnittsalter lag zwischen 18 und 30 Jahren. Bei uns waren die kranken und alten Leute. Auf dem Schiff mussten sich neunzehn Mann Besatzung um 900 Schiffbrüchige kümmern. Es gab für jeden von uns Spaghetti und Soße (Anmerkung der Redaktion: Ich hätte in dieser Situation wahrscheinlich nicht lange überlegt, ob die Soße vegetarisch ist…). Die Tanker-Crew war, angesichts der Küchenarbeit, völlig durchgeschwitzt. Um etwas zu trinken zu bekommen, musste man anstehen. Kurz vor dem Dunkelwerden kam ein Hubschrauber, der eine Runde drehte und wieder verschwand. Die Amerikaner! Bald räumten wir das vordere Deck, weil per Hubschrauber Decken und Lebensmittel abgeworfen werden sollten.

Mittwoch, 30. November 1994, 17.00 Uhr, In Sicherheit auf einem Öltanker

Mittlerweile hatten wir 14 Stunden Angst und Schrecken hinter uns. Um 17.00 Uhr waren wir auf dem Schiff und gerettet. Unsere zwei befreundeten Paare waren nicht seekrank geworden und kamen erst später auf das Schiff. Wir waren glücklich, denn es wurde bereits dunkel. Der Blick auf das Meer mit der lichterloh brennenden Achille Lauro war schauderhaft. Vor ungefähr sieben Stunden hatten wir das Schiff verlassen. Wir ließen uns auf dem Öltanker nieder und konnten das Erlebte nicht fassen. Wir meinten immer noch, geträumt zu haben und bald aufzuwachen. Später suchten wir einen Platz zum Schlafen. In einem Raum fanden wir einen Platz, auch wenn es nur ein Eisenboden war. Ein Crew-Mitglied warf einen Pappkarton weg. den schnappten wir uns. Die Schwimmwesten waren unsere Kopfkissen, die man auch nicht unbeobachtet lassen konnte. Angelica, eine Servicekraft von unserem Schiff, brauchte uns auf einem Tempotaschentuch Kekse und ein wenig später auch Milch in einem Tetrapack vorbei. Wie gesagt: Die Crew hatte teilweise ihre Taschen dabei. Dennoch war es eine nette Geste, wenn man bedenkt, dass das Personal in der nächsten Zeit wohl eher keine neuen Jobs haben würde. Wir trennten Christians Thermoschlafsack so auf, dass wir ihn als Unterlage auf den Eisenboden legen konnten und zu viert nutzten. Ein Müllsack diente ebenfalls als Kopfkissen. Die Zeit war gekommen, endlich ein wenig abzuschalten. Günter Weber merkte dann beim Hinlegen, dass er seinen Geldbeutel in der Gesäßtasche hatte. Es waren einige Dollar drin. Das könnte uns noch helfen. Mit einem Blick auf den klaren Sternenhimmel werden sich wohl einige gedacht haben: Du da oben, lass die Sache bitte gut für uns ausgehen.

Mittwoch, 30. November 1994, Mitternacht, Hubschrauber bringen Hilfsgüter

Die Hubschrauberpiloten riskierten beim Anflug Kopf und Kragen. Schwaches Licht und die Aufbauten auf Deck erschwerten bei Dunkelheit die Situation. Wir legten vorsichtshalber wieder unsere Schwimmwesten an. Die Ballen wurden abgeworfen, der Hubschrauber drehte ab und kam nach einiger Zeit wieder. Tatsächlich gelang es uns, einzuschlafen. Ein denkwürdiger Tag war zu Ende, das Abenteuer allerdings noch nicht.

Donnerstag, 01. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Ein neuer Tag beginnt

Die Lautsprecherdurchsage brachte die Information, dass wir an Deck bleiben sollten. Die Crew der Achille Lauro würde für das Frühstück sorgen. Ein Ei, eine Viertel Pampelmuse, Cornflakes und eine Scheibe Toast. Besser als nichts. Das Getränk in einem Plastikbecher war für zwei Personen. Die Demütigung, dass die Crew zuerst gefrühstückt hatte, nahmen wir hin.

Donnerstag, 01. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Umzug auf die Gettysburgh

Die neueste Information war, dass alle deutschen Passagiere auf das US-Kriegsschiff Gettysburgh gebracht würden. Das war eine sehr gute Nachricht. Denn knapp 1000 Menschen auf einem Öltanker mit Getränken und Essen zu versorgen, würde sehr bald nicht mehr funktionieren. Die Gettysburgh hatte im Abstand von 200m bereits festgemacht. Ein Beiboot der Marine war schon an unserem Tanker angekommen. Zwei Soldaten waren auf der Brücke, zwei auf der Gangway. Das Anlegen der Marine-Boote war für die geübten Soldaten eine leichte Übung. Jeder Handgriff saß, hier waren Fachleute am Werk. Als der Kapitän der Achille Lauro, Giuseppe Orsi, auf der Brücke gesichtet wurde, gab es ein lautstarkes Pfeifkonzert. (Anm.: Man muss ihm zumindest zugute halten, dass er das Schiff als Letzter verließ). Über die Gangway und mit unseren Plastikbeuteln in der Hand gelangten wir auf das Schiff. Aber auch hier musste Ordnung sein. Wir wurden nach Liste abgehakt. Auf der Gettyburgh trieb uns das „Willkommen an Bord“ und ein Händedruck die Tränen in die Augen. Wir konnten nur noch ein Danke stammeln. Ein Crew-Mitglied reichte uns frisches, kühles Wasser. Ein Glas Sekt hätte nicht besser schmecken können.

Donnerstag, 01. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Deutsch-Amerikanische Freundschaft

Über eine schmale Treppe erreichten wir den Hubschrauber-Hangar. Hier wurden wir mit allem Notwendigen versorgt: Socken, Sandalen, Unterhosen, T-Shirts, Hosen, Zahnbürsten, Seife. Es war an alles gedacht. Später erfuhren wir, dass all diese Dinge aus dem Privatbesitz der Crew stammten. Auf vorbereitete Zettel mussten wir unsere Namen schreiben, die uns dann mit Tesa auf den Handrücken geklebt wurden. Mit jedem Paar, bzw. jeder einzelnen Person ging ein Soldat ins Schiffsinnere, wo uns die Schlafräume gezeigt wurden. Das Labyrinth an schmalen Gängen und Treppen war gewöhnungsbedürftig. In den Schlafräumen waren jeweils drei Betten übereinander. Am Fernsehraum vorbei ging es in Richtung Duschen. Was für eine Wohltat. Kaum waren wir hergerichtet, wurde zum Essen gerufen. Also Treppe rauf, im Gang 5m nach links, und dann circa 20m nach rechts. Anstellen an der Schlange. Die Essensausgabe lief wie in einer Kantine ab. Tablett nehmen, Fisch, Fleisch, Reis, Kartoffeln, Gemüse, Kuchen, Obst aufladen, Besteck und im Speisesaal Platz nehmen. Wir suchten uns einen Vierertisch, an dem ein Soldat saß. Als unser befreundetes Pärchen auf unseren Tisch zusteuerte, bot der Soldat seinen Platz an und gesellte sich zu seinen Kameraden. Wir wollten das eigentlich nicht, aber ehe wir uns artikulieren konnten, saß der Soldat schon am Nebentisch. Wir konnten das alles, was um uns herum geschah, kaum fassen. Wir saßen auf einem amerikanischen Kriegsschiff. Um uns herum Soldaten aller Hautfarben. Es kam uns vor, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Nach der Geschirrabgabe suchten wir den Weg ans Deck. Überall freundliche Antworten auf unsere Fragen. Große Stahltüren mussten mit einem schweren Hebel und viel Kraft aufgedrückt werden. Scheinbar wirkte hier der unterschiedliche Druck. Auch an Deck herrschte die totale Bewegungsfreiheit. Es gab keine Beeinträchtigungen oder Einschränkungen. An der Reling entlang konnten wir das ganze Schiff umrunden. Wir sahen einen anderen Passagier mit einer Einwegkamera. Wo war die denn her? Aus dem Shop. Nichts wie hin. Die 12 Dollar (wir erinnern uns an den Geldbeutel) waren eine gute Investition, um ein paar Erinnerungsfotos zu schießen. Vom Hubschrauber-Deck aus konnten wir acht Rettungsschiffe sehen. Wir setzten uns auf die Abschussrampen für die Cruise-Missiles, blickten auf das Meer und sahen unseren Öltanker und das unendlich erscheinende Wasser. Jetzt, wo wir in Sicherheit waren, schämte sich niemand seiner Tränen, die ungewollt kamen. Am Nachmittag kehrte der Hubschrauber zurück. Wir mussten Mützen und andere Utensilien abnehmen. Es kam zu Gesprächen mit anderen Passagieren über den Hergang des Unglückes und der Evakuierung. Über die Achille Lauro war nichts Erfreuliches zu hören.

Wir kamen auch mit den Soldaten ins Gespräch, wobei die Verständigung nicht ganz einfach war. Sie zeigten große Anteilnahme und wollten von Dank nichts hören. Nach dem Abendessen gab es aus den Lautsprechern eine kurze Andacht für die Verstorbenen – in deutscher Sprache. Völlig ermüdet fielen wir in unsere Betten. Erst in der Nacht bemerkten wir einen Raum, in dem Soldaten auf dem Boden und in den Bänken schliefen. Uns ging ein Licht auf. Sie hatten ihre Betten für uns freigeräumt. Wir waren perplex und sehr bewegt.

Freitag, 02. Dezember 1994, 6.00 Uhr, Frühstück

Die Lautsprecherdurchsage verriet, dass ein neuer Tag begann. Alles ging sehr geordnet zu. Die WCs wurden von Männlein und Weiblein gemeinsam genutzt. Waschen und Duschen war für die Damen ein Stockwerk höher. Im Speisesaal sahen wir eine Schlange, auch mit Soldaten. Aus Respekt verzichteten wir zunächst auf das Frühstück und gingen auf das Deck. Nach kurzem Gedankenaustausch mit unseren Freunden gingen wir dann doch zum Frühstücken. Die Soldaten begrüßten uns wie alte Bekannte. Wir fühlten uns wohl und geborgen.

Wenig später startete wieder der Hubschrauber. Das Meer um das Achille-Wrack wurde weiterhin nach Vermissten abgesucht. Ein Offizier, der gut Deutsch konnte, fragte uns nach dem Hergang des Unglücks. Wir schilderten es ihm. Er war eine ganze Zeit lang sprachlos. Wir stellten fest, dass wir uns aus dem Unglücksgebiet noch nicht wegbewegt hatten. Dabei hatten wir doch am Vorabend gehört, wie das Schiff Fahrt aufgenommen hatte. Die Erklärung war, dass die Gettysburgh eine Runde um die Achille Lauro gedreht hatte. Auch zwischen uns Passagieren wurde viel diskutiert. Die Zeit verging schnell. Um 14.00 Uhr nahmen wir auf dem Hubschrauber-Deck an einer Gedenkfeier für die Toten teil. Ein Rednerpult und eine Orgel waren aufgestellt. Soldaten erschienen in weißer Uniform. Die Witwe des verstorbenen Berliners und deren Bekannte nahmen auf dem Stühlen Platz. Der Bordgeistliche sprach in Deutsch. Gewandt an die Witwe sagte er: „Sie haben einen geliebten Menschen verloren, aber viele Freunde gewonnen.“ Dann sprach der Kapitän. Elfi H. übersetzte. Danach übergab der Kapitän der Witwe eine Seekarte mit allen Eintragungen und ein Sternenbanner. Auf der Orgel wurde leise Trauermusik gespielt. Ein Matrose blies zum Abschluss ein Trompetensolo. Wir waren tief bewegt.

Wir beschlossen, uns die Brücke anzuschauen. Gitterstege, Eisentreppen. Am Ende mussten wir doch einen Matrosen nach dem Weg fragen. Er ließ seine Arbeit ruhen und begleitete uns auf die Plattform unter der Brücke. Hier blies ein frischer Wind, und eine Wache war vor dem feststehenden Fernrohr postiert. Der Soldat war mit einem Headset „bewaffnet“. Nach einer kurzen Begrüßung öffnete sich die Tür. Wir waren drin. Die Technik war beeindruckend. Alles wurde uns erklärt. Radar, Steuerungs- und Ortungsgeräte. Kein Vergleich zur Brücke auf der Achille Lauro, die wir uns ja auch angeschaut hatten. Hier, von der Brücke aus, konnten wir ermessen, auf was für einem gewaltigen Schiff wir uns befanden. Vor Verlassen der Brücke mussten wir einen Bericht zu den Ereignissen abgeben. Auch hier: Ungläubiges Staunen. Auch den Hubschrauber besichtigten wir. Die Rotorblätter wurden gewaschen, das Heck eingeklappt. Danach wurde der Hubschrauber auf einer Schiene in den Hangar geschoben. Wir gingen wieder auf das Deck zu unserem Lieblingsplatz – den Abschussrampen. Wie die Reise weiterging, wussten wir noch nicht. Wir erfuhren aber, dass die Achille Lauro um 17.20 Uhr gesunken sei. Da war er wieder – der bohrende Schmerz. Der Tag ging wie gewohnt zu Ende. Ab jetzt hieß es allerdings: Wasser sparen.

Samstag, 03. Dezember 1994, 7.30 Uhr, Frühstück

Auf Deck fand eine Routine-Übung des Hubschraubers statt. Ein Soldat stand bewaffnet neben dem landenden Hubschrauber. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen der Haie. Bei der Mittagessenausgabe halfen deutsche Schiffbrüchige. Auch einige Matrosen und sogar der Kapitän waren dabei. Es gab… Sauerkraut. Im zweiten Weltkrieg nannten die Amerikaner die deutschen Soldaten wegen ihrer Vorliebe zum Weißkraut abwertend Kraut. Das war eine Beleidigung. Dass wir auf diesem US-Kriegsschiff Seite an Seite mit amerikanischen Soldaten standen bzw. saßen, zeigt, dass von diesem historischen Wahnsinn nur noch die Sache mit dem Sauerkraut in den Köpfen geblieben ist.

Um 15.00 Uhr hatte die Crew eine Grillparty als Abschiedsparty angesetzt. Es gab Grillfleisch, Hamburger, Käse, Salate und Getränke. Alles erschien total normal. Dabei waren wir hier auf einem Kreuzer, und nicht auf einem Kreuzfahrtschiff. Wir trugen uns ins Kapitäns-Buch ein. Der Kapitän erklärte uns, was am nächsten Tag passieren wird. Renate S. übersetzte die Rede und bedankte sich in unserem Namen bei der Crew. Anschließend: Drei Minuten Applaus unsererseits. Die Mannschaft war bei der Party nicht in Uniform dabei, sondern in Shirts, total ungezwungen. Wir trällerten noch ein Happy Birthday für Elli H. Auch unsere junge deutsche Ärztin wurde mit einem Geschenk bedacht. Noch während der Fete durften wir die „Zentrale“ besichtigen. Als Landratten trauten wir unseren Augen nicht. Bis zu 1m große Bildschirme. Radaranlagen für Luft, Wasser und Unterwasser. Per Knopfdruck leuchteten auf einem Bildschirm Punkte auf – die Standorte der anderen US-Schiffe. Anschließend war die Fete immer noch im Gange. Sogar Federball wurde gespielt. Die Temperaturen waren auch am Abend angenehm. Wir erzählten uns sogar Witze.

Sonntag, 04. Dezember 1994, Djibouti

Die Aussicht, heute von Bord zu gehen und an Land zu gelangen, ließ uns schon um 5.30 Uhr aus den Betten springen. Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten ein. Wenn man überlegt, mit wieviel Gepäck wir die Reise begonnen hatten, und mit wie wenig eigenen Dingen wir nach Hause kommen würden – unfassbar. Um 6.15 Uhr waren wir fertig. Die Matrosen-Kleidung – wenn nicht mehr gebraucht – warfen wir in bereitstehende Säcke. Auf dem Deck startete wieder der Hubschrauber. Da hieß es, alles festzuhalten, was nicht niet- und nagelfest ist. Wie angekündigt kam der Hubschrauber mit Pressevertretern und dem deutschen Botschafter von Djibouti zurück. Wir hielten uns im Hintergrund und bedankten uns bei den Soldaten, die den Dank nicht annehmen wollten. Alles sei eine Ehre für sie, eine Selbstverständlichkeit. Dann wurden wir von amerikanischen Journalisten gebeten, uns doch noch fotografieren zu lassen. Klassisch, an der Reling, mit Sternenbanner im Hintergrund.

Bei der Einfahrt in den Hafen sahen wir, dass unser Begleitschiff Nr.40 zu uns aufgeschlossen hatte. Es fuhr mit angetretener Mannschaft in den Hafen ein. Busse, französische Soldaten und Presse erwarteten uns bereits an der Anlegestelle. Jetzt hieß es Abschiednehmen, von „Lotion“, dem Bäcker und vom Computer-Offizier. Es fiel uns immer schwerer, „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Zuerst verließen die Kranken das Schiff. Die ganze Tragödie wurde wieder augenscheinlich. Jeder Passagier, der von Bord ging, wurde noch auf dem Schiff vom Botschafter begrüßt und vom 1. Offizier auf einer Liste abgehakt. Der Kapitän ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen von uns einzeln und mit guten Wünschen für Weihnachten und das neue Jahr zu verabschieden. Unten an der Gangway winkten wir ein letztes Mal nach oben – bevor wir die Busse bestiegen. Natürlich schossen wir von „unserem“ Schiff noch ein letztes Foto. Ziel unserer Busfahrt war das Sheraton-Hotel. Alle Schiffbrüchigen versammelten sich dort in einem Nebenraum. Unterwäsche wurde ebenso ausgeteilt wie vorläufige Ausweispapiere. Diese Prozedur zog sich hin, auch wenn sich alle Beteiligten große Mühe gaben. Nach einem sehr guten Mittagsbuffet erhielten wir Trainingsanzüge und wenig später 100 Dollar „Kopfgeld“. Später gab es noch Strümpfe, Turnschuhe und T-Shirts. Dann nahmen wir den großen Hotelpool in Beschlag. Einige von uns hatten ihre Badesachen ja noch… Andere stiegen einfach in Unterwäsche ins Wasser. Hier im Hotelgarten drehte auch RTL einen Beitrag zum Unglück. Nach einem wiederum üppigen Abendessen schalteten wir auf unserem Zimmer den Fernseher an. Die „Bardou“ lief ein. Wir erkannten unsere Bekannten wieder. Welche Freude, als sie um 2.00 Uhr in der Früh zu uns stießen.

Montag, 05. Dezember 1994, 5.00 Uhr, Heimflug über Rom

Nach einem kleinen Imbiss mit Kaffee und Säften fuhr der Bus bereits um 6.00 Uhr zum Flughafen. Es fielen einige Regentropfen. Der Tag in Afrika begann. Als wir am Flughafen eintrafen, war die Al Italia-Maschine gerade gelandet. Wir mussten noch ein Formular ausfüllen und wurden dann in kleinen Gruppen aus dem Abfertigungsgebäude herausgeführt, die Kranken zuerst. Um 8.20 Uhr saßen wir im Flieger. Die deutsche Zeit war 6.20 Uhr. Mit der Boeing 747 überflogen wir um 10.00 Uhr Luxor am Nil. Kreta sichteten wir um 11.00 Uhr. Europa hatte uns wieder. Der Service an Bord war tadellos. Es gab keine Limits, es fehlte an nichts. Um 13.00 Uhr landeten wir in Rom. Die Presse hatte man vor uns abgeschirmt und in einen Bus verfrachtet. So genau sollte das italienische Debakel jetzt wohl doch nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Ein ganzes Gate war für uns reserviert und abgesperrt worden. Gleich neben dem Eingang lagen Mäntel und Jacken bereit, nach Größen geordnet. Schließlich war in Europa tiefster Winter, und wir hatten ja nichts… Es gab Getränke und Sandwiches, Eis und auch ein paar deutsche Zeitungen. Am Schalter wurde uns mitgeteilt, dass unsere Heimreise nach München geklärt sei. Ein Herr Bernard werde uns in München in Empfang nehmen. Um 15.12 Uhr saßen wir in einer Boeing 737-400 von Lauda-Air. Wir starteten um ca. 15.30 Uhr. Kaum war in der Luft das Zeichen zum Abschnallen erklungen, kam ein Team des Reiseveranstalters Maritim und verteilte Umschläge. Inhalt: Ein Anschreiben und ein Verrechnungsscheck mit dem gesamten Reisepreis.  Von der Quelle-Reiseleitung erhielt jeder eine Mappe mit Unterlagen für die Versicherung. Die an Bord verfügbaren österreichischen Zeitungen berichteten bereits über den Untergang des Schiffes. So war es ein kurzweiliger zweistündiger Flug, bei dem wir auch über Schadenersatz usw. diskutierten. Wir verabschiedeten uns am Flughafen München von unseren Bekannten, mit denen wir in den letzten Tagen Freude und Ängste geteilt hatten. Wir hatten nicht vor, mit der Presse zu sprechen, waren aber dem Ansturm kaum gewachsen. Erst ein Sicherheitsbeamter schleuste uns dann seitlich zum Ausgang, denn auf unser Gepäck mussten wir schließlich nicht warten. Wir erinnern uns: Indischer Ozean, 70km vor der Küste, 5000m auf dem Meeresgrund, vermutlich ist es aber verbrannt… Vor dem Eingang warteten unsere Kinder und Verwandte und Bekannte. Die Freude auf beiden Seiten kannte keine Grenzen.

Vielen Dank an Hildegard May aus Winhöring für die Bereitstellung ihrer Geschichte.

Nachbetrachtung

Das Blickpunkt-Wochenblatt berichtete in seiner Ausgabe vom 22. November 1995 über den Fall. Ein Musterprozess war zu diesem Zeitpunkt im Gange. Ausgang ungewiss. Von Schmerzensgeld wollte der Richter damals nichts wissen. Die Versicherungen zogen sich auf die Position zurück, dass die Passagiere nicht nachweisen könnten, welches Hab und Gut sie auf dem Schiff dabeihatten. FOCUS berichtete am 12.12.1994 in seiner Ausgabe Nr. 50 über das Unglück und stellte die Hochseetüchtigkeit des Schiffes in Frage. Zu Wort kommt Jürgen Lohmeyer (damals 51) und ein Spitzentechniker aus Deggendorf. Ein 30cm x 30cm großes Peilgerät verschaffte ihm damals Zugang zur Brücke. Mit dem Peilgerät war er der Technik des Schiffes weit überlegen. Während der Kapitän noch mit manuellem Kompass navigierte und mit Stift und Lineal in den Karten herumzeichnete, war das Peilgerät per Knopfdruck in der Lage, den besten Satelliten anzupeilen und so in Sekundenschnelle Position, Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes festzustellen.

Die Familie May aus Winhöring bekam von ihrer Hausratversicherung lediglich einen Kulanzbetrag. Als Ausgleich boten Veranstalter und Reederei eine Ersatz-Kreuzfahrt an. Kommentar: Nie wieder betreten wir ein Schiff. Dem Kapitän der Gettysburg sind die deutschen Passagiere immer noch dankbar für die Rettung. Der Kapitän und seine Frau werden in Abständen zu den regelmäßigen Überlebenden-Treffen eingeladen. Er spricht dann immer davon, dass „wir eine große Familie geworden sind“. Das erste Treffen war schon ein Jahr später in Malente. Seitdem trifft man sich aller zwei bis drei Jahre in einer anderen Stadt. In diesem Jahr war ein Treffen in Altötting geplant, das wegen Corona und der Kriegssituation verschoben wurde.

Wer gedacht hatte, dass die zivile Schifffahrt aus einem solchen Unglück gelernt hätte, irrt sich. Mit der Costa Concordia, natürlich auch ein italienisches Schiff, natürlich auch mit einem italienischen Kapitän, schloss sich im Jahre 2012 das nächste Unglück an. Aber spätestens ab da waren die Kreuzfahrttouristen, und vor allem die Amerikaner, gewarnt. Die erste Frage beim Betreten eines Reisebüros für das Buchen einer bestimmten Kreuzfahrt lautete fortan: Ist der Kapitän ein Italiener?

Italienischer Seelenverkäufer, Achille Lauro, 1994:

Der Kabinenschlüssel, als eines der wenigen Mitbringsel von der Reise:

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