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Als ich davon hörte, dass am Wochenende gleich fünf deutsche Bergsteiger im Ortlergebirge ihr Leben verloren, wurde ich hellhörig und erinnerte mich an die eigenen Wandererfahrungen in diesem Gebiet. 1993 erklommen wir in einer Dreierseilschaft problemlos den 3.905m hohen Ortler. Diese Zweitagestour war phänomenal. Ich muss aber zugeben, dass das der zweite Versuch war. Den ersten Versuch hatte ich mit meinem Cousin ein Jahr vorher unternommen. Und an Hand dieses gescheiterten Versuches möchte ich aufzeigen, wie gefährlich eine Wanderung in diesen Höhen sein kann.
Erfolg erst im zweiten Versuch
Den Tagebuchbericht möchte ich hier ungekürzt aufzeigen. Seit dem ersten PC (ein 286 at), den wir uns 1992 gekauft haben, führe ich mein Tagebuch elektronisch. Damals gab es noch kein Windows, kein Word, nichts. Aber die Zeiten von Edlin waren – meine ich – auch schon vorbei. Ich hatte aber irgendetwas ganz Einfaches, vielleicht wordstar, oder so etwas. Die elektronische Tagebuchvariante existiert leider nicht mehr. Es gibt nur die ausgedruckte Version. Wie scannt man den Text am einfachsten? Richtig mit dem iPhone. Je DINA4-Seite ein Scan, Text markieren, sich selbst als whatsapp-message senden, hier her kopieren, fertig. Und hier ist der ganze und wörtliche Bericht von damals:
Am Freitag, dem 28.08.1992, machten wir uns am späten Nachmittag auf den Weg nach Südtirol und übernachteten am Wanderparkplatz in Sulden im Auto. Am nächsten Morgen machten wir uns ohne größere Hektik ans Werk, packten unsere Rucksäcke – den Weg hatte Vincenc inzwischen zufällig entdeckt – und gingen ans Werk. Laut Hinweisschild würden wir etwa 3 1/2 Stunden benötigen, um vom 2000m hoch gelegenen Parkplatz zur Pajerhütte in über 3000m zu gelangen. Das schien ein Kinderspiel, war es im Grunde genommen auch. Nach zehn Minuten mußten wir zwar die erste taktische Gewöhnungspause einlegen, aber danach ging es doch locker den Berg hinauf. Und wir waren doch tatsächlich erst nach 3 1/2 Stunden an besagter Hütte. Ich hätte vorher gewettet, daß wir schneller sein würden. Schließlich hatten wir bis dahin solche Zeitangaben immer lässig unterschritten.
3,5h für die ersten 1.000 Höhenmeter
Die Hütte erreichten wir dann auch tatsächlich problemlos. Dort gönnten wir uns eine Stunde Pause. Ich hatte mich von Grund auf neu einzukleiden. War es bis dahin eine völlig ungefährliche Wanderpartie, so war ich mir in der Hütte schon bewußt, was da noch alles auf uns zu kommen könnte. Dann der Aufbruch. 900m Höhenunterschied standen uns bevor. Meine neuen Bergschuhe würden eventuell Blasen hervorrufen, und mit Steigeisen hatte ich bis dato auch noch keine Erfahrungen gemacht. Aber all das war für mich nebensächlich. Das konnten nicht die eigentlichen Gefahren für unser Vorhaben sein.
Ich schätze, daß wir etwa eine Stunde unterwegs gewesen sein mochten, als die erste wirklich hohe Hürde zu nehmen war. Vor uns lag ein gigantisches Stück Arbeit. Da türmte sich ein derart hoher steiler Felsen vor uns auf, daß ich spontan zu Vincenc meinte, daß er mich da nicht hochbringen würde. Das schien der Hammer zu sein, war aber dann doch nicht gar so schlimm.
Danach hieß es: Steigeisen anschnallen. Es mußte ein etwa 300m breiter Gletscher gequert werden. Es handelte sich um einen gigantischen Hang mit einem Winkel von vielleicht sechzig oder siebzig Grad. Er führte praktisch ins Nichts. Ein einziger unbedachter Schritt bedeutete unweigerlich den Tod. Es wäre ein grausamer Tod, weil man, während man ohne Chance ist, die Rutschpartie aus eigener Kraft zu beenden, noch ein paar Sekunden Zeit zum Gebet hat, dem Tod direkt ins Auge blickt, bevor der freie Fall und der darauf folgende Aufprall das unweigerliche Ende bedeuten. Und mit welcher Wucht so ein Aufprall erfolgt, konnte ich dann viel viel später noch selber sehen.
Gefährliche Gletscherüberquerung
Im Anschluß daran mußten wir Schneefelder überwinden, welche so steil waren, daß jeglicher Spaß abhanden kommen mußte. Und da sah ich dann auch das erste Mal diese berüchtigten gefährlichen Gletscherspalten, von denen ich zwar gehört, die ich aber noch nie gesehen hatte. Spätestens dann, wenn man in solche dunklen Risse hineinschaut, und keinen Grund sieht, wird einem bewußt, auf was man sich da überhaupt eingelassen hat. Äußerste Vorsicht ist da angesagt. Schließlich wirft man sein Leben nicht einfach weg, wie ein Paar ausgelatschte Schuhe.
Ruhe- und rastlos ging es vorwärts, bzw. aufwärts. Inzwischen war uns klar geworden, daß die Zeit ein entscheidender Faktor sein könnte. Daß wir an diesem Tag die letzten waren, die sich zum Gipfel aufmachten, konnten wir von den uns entgegenkommenden schnell erfahren. Und klar war auch, daß wir bei einbrechender Dunkelheit größter Gefahr ausgesetzt sein würden. Uns blieb nichts anderes übrig, als einen Zeitpunkt festzulegen, an dem wir unbedingt umkehren mußten, egal, wie nahe wir dem Gipfel in dem Moment sein würden.
Der Gipfel war nah, Umdrehen aber jederzeit eine Option
Je weiter wir uns hinaufarbeiteten, desto schrecklicher wurde das Wetter. Schneesturm und Eisregen gaben sich die Ehre. Der Gegenwind war so stark, daß wir uns zeitweise unwillkürlich am Eispickel festhalten mußten, weil wir sonst umgewedelt worden wären. Das, was ich bisher nur im Fernsehen gesehen hatte, wenn es hoch hinauf auf den Himalaya ging, war urplötzlich Realität. Ich war derart ausgezehrt, daß nach jedem kleinen Schritt fünf oder sechs Atemzüge notwendig waren, bevor ich den nächsten Schritt in Angriff nehmen konnte.
Und dann diese verdammten Gletscherspalten. Der Weg bahnt sich natürlich so, indem man sie an Stellen überschreitet, wo sie von Schnee überweht und von vorherigen Alpinisten festgetreten sind. Aber woher weiß man, ob sie tatsächlich noch tragen. Zumindest an einer Stelle erschien uns solch eine Schneebrücke zu unsicher. Wir mußten uns gegenseitig mit Hilfe der Eispickel hinübersichern, zuerst die Rucksäcke, dann uns selbst. Eine halbe Stunde raubte uns diese Aktion. Eine halbe Stunde für 150cm Wegstrecke…
30 Minuten für 150cm Wegstrecke
Nach 16.00 Uhr kam mir dann die Erkenntnis, das wir es nicht schaffen würden. Für einen kleinen Moment schienen wir den Gipfel zu sehen, ganz undeutlich, und unmenschlich weit. Entfernungen kann man da oben schlecht schätzen. Aber eine Stunde hätte es bis zum Gipfel sicher noch gedauert. Andererseits waren wir schon so lange unterwegs, daß es eigentlich keine Stunde hätte mehr dauern dürfen. Es blieb uns nichts weiter übrig, als – den Sieg vor Augen – umzukehren. Die Umkehr fiel mir selbst nicht allzu schwer. Mir war klar, daß jeder Meter, den wir noch weiter gegangen wären, unser Leben noch mehr bedroht hätte. Uns es wurde auch so schon schlimm genug.
Wie es halt so ist, beim Abstieg. Die Konzentration ließ nach. Ich versuchte, mit möglichst wenig Kraft Höhe zu verlieren. Und so passierte es. Ich hatte mich mit meinen Steigeisen irgendwie verhäddert, verlor das Gleichgewicht, und rutschte einen gewaltigen Schneehang hinunter. Vincenc war vor mir gegangen. Auch er hatte
keine Chance. Ich riß ihn mit voller Wucht mit. Unheimliche Sekunden waren das. Wir rutschten einen Hang hinunter, der ins Nichts führte. Aber das Glück stand uns beiseite. Durch die vielen Wanderer vor uns hatte sich der Weg in eine tiefe Furche verwandelt, die eine lange leichte Linkskurve machte. Wir gerieten beide glücklicherweise in diese Furche. Die Gefahr, den Hang gradeaus in den Tod zu rutschen, war gebannt. Wir trudelten langsam aus, faßten uns und weiter ging es bergab. Allerdings hatte ich mit meinem Steigeisen Vincenc an Wade und Schienbein arg verletzt. Aber er biß die Zähne zusammen.
Lebensgefährlicher Stolperer
Ab dem Augenblick war ich natürlich wieder absolut konzentriert. Solch ein Glück hat man nicht zweimal auf so einer Tour. Aber es kam dennoch dick. über den schon erwähnten Eishang kamen wir ohne Probleme wieder retour. Wir hatten auf hinzu gesehen, daß sich andere Zweierseilschaften gegenseitig angeseilt hatten. Unserer Meinung nach völlig zwecklos. Wenn einer den Hang herunterfällt, kann der andere dieses Gewicht nie und nimmer abfangen. Er würde unweigerlich mit in die Tiefe gezogen werden. Also verzichteten wir darauf, uns anzuseilen. Kaum hatten wir diesen gruseligen Hang überwunden, wurden wir Zeugen von gigantischen Steinschlägen. Steine, so groß wie Fußbälle segelten hinab, schlugen auf, flogen im hohen Bogen wenigstens 60m durch die Luft. Wären wir nur fünf Minuten später dran gewesen.
Das Unheil nahm seinen Lauf. Wir hatten die Steigeisen eben verstaut, bewegten uns auf diese gribblige Felsenstelle zu, als fürchterlicher, widerlicher Regen einsetzte. Der Felsen war sofort naß, durchweicht und glitschig, eigentlich unbegehbar. Aber wir mußten weiter. Warteten wir, wäre der Felsen bei den niedrigen Temperaturen womöglich noch gefroren. Mit äußerster Konzentration war als erstes ein etwa hundert Meter langer Grat zu überwinden. Der war so schmal, daß ich ein Bein links und ein Bein rechts hinunterbaumeln lassen konnte. Auf beiden Seiten ging es wohl achthundert bis eintausend Meter abwärts.
Blick in die Tiefe, Blick in den Tod
Jeder Schritt wollte nun überlegt sein. Auf nichts war jetzt mehr Verlass. Die völlig durchnässten Handschuhe hatte ich längst abgelegt. Ich mußte sichere Griffe im Felsen suchen. Mein verletzter Finger begann unter den extremen Bedingungen sofort zu schmerzen. Aber das war völlig uninteressant. Im schwierigsten Teil mußten wir uns mit dem Seil sichern. Und es kam, wie es kommen mußte. Plötzlich durchzuckten Blitze die einsetzende Dunkelheit. Die Donner ließen nicht lange auf sich warten. Vincenc und ich schauten uns nur einen Bruchteil einer Sekunde an. Länger nicht. Denn die gespenstische Angst im Gesicht des anderen baut auch nicht eben auf.
Jetzt ging es um Leben und Tod. Dennoch behielten wir die Ruhe. Ich versuchte mir einzureden, daß ich in meinem Leben eigentlich immer Glück hatte. Und so konnte das Leben doch nicht zu Ende gehen. Wir legten einen Zahn zu, wohlwissend, daß wir mit unseren Eispickeln im Gepäck, die Spitze nach oben gerichtet, die idealen Blitzableiter darstellten. Und wir mußten noch über einige Grate hinweg.
Blitze, Donner, Regen, Lebensgefahr
Aber wir schafften es. Bevor sich völlige Dunkelheit ausgebreitet hatte, erreichten wir die Hütte. Wenig später brach dann draußen das Gewitter mit solch einer Heftigkeit aus, daß wir uns im Laufe des Abends wenigstens noch zehnmal ausmalten, wie es uns wohl ergangen wäre, wenn wir auch nur zehn Minuten weitergegangen wären. Dann fielen wir in unsere Betten und schliefen den Schlaf der Gerechten.
Am nächsten Morgen war es kalt. Da oben war im August der Winter ausgebrochen. Wir konnten uns nicht sogleich auf den Rückweg machen, weil wir nicht einen trockenen Fetzen zur Verfügung hatten. Die Sachen wurden einfach nicht trocken. So blieb uns nichts weiter übrig, als widerwillig in die Klamotten zu steigen und aufzubrechen. Der Rückweg zum Auto war völlig problemlos, genauso die Heimfahrt nach Burghausen.
Fazit
Wir hatten uns die Suppe durch schlechtes Zeit-Management selbst eingebrockt. Es wäre so einfach gewesen, einfach auf der Payer-Hütte zu übernachten und am nächsten Tag ausgeruht den Rest des Berges anzugehen. Und das scheint mir auch der Fehler der fünf Bergsteiger am Wochenende gewesen zu sein. Sie befanden sich noch am späten Nachmittag in der Aufstiegsphase zu Vertainspitze. Bei schon winterlichen Bedingungen waren sie offensichtlich nicht so schnell vorangekommen, wie sie geplant hatten. Im richtigen Moment umzudrehen, war dann keine Option, denn der Gipfel schien zum Greifen nah.
Dann lässt natürlich auch die Kraft nach, was aber für das Unglück nicht ursächlich war. Die obere Zweiergruppe – ein Vater und seine 17-jährige Tochter – stehen im Verdacht, ein Schneebrett ausgelöst zu haben, welches sie selbst und die Dreiergruppe unter ihnen in die Tiefe riss. Damit war das Leben von fünf Menschen jäh beendet. Die Lawine wurde auf 3.200m Höhe ausgelöst. Die Zweiergruppe hatte zum Unglückszeitpunkt noch 350 Höhenmeter vor sich, was in dieser Höhe bedeutet, dass man noch ein dickes Brett zu bohren hatte. Beide Gruppen hätten umdrehen müssen, haben es aber nicht getan und diesen Fehler deshalb mit ihrem Leben bezahlt. Das ist sehr bitter, insbesondere für die Familien der fünf Wanderer aus Bayern. Die Wanderer haben es hinter sich, die Familien müssen mit dem Schmerz des Verlustes aber weiterleben.
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