
Ich hatte das Thema gestern schon angerissen und auf die leichte Doppelmoral hingewiesen, die ich verspüre. Der Frust auf die Belgier, die Münchner Philharmoniker wegen ihres jüdischen Dirigenten auszuladen, ist mit Recht riesig. Man fragt sich: Ja, geht denn das denn schon wieder los?
Die Kritiker an der Entscheidung der Belgier führen an, dass man einen einzelnen Menschen nicht für das verantwortlich machen kann, was die Regierung seines Staates tut. Sehr, sehr richtig. 100% Zustimmung. Hier beginnt dann aber auch die German Doppelmoral.
Denn im Jahr 2022 gab es bei den Münchner Philharmoniker eine fragwürdige Personalentscheidung. Damals musste der russische Stardirigent Valery Gergiev das Orchester verlassen.
Die Begründung des damaligen Münchner OB war in etwa die gleiche wie die, die wir jetzt aus Belgien hören. Ungenügende Distanzierung vom eigenen Land. Wo war damals ein ähnlicher Aufschrei wie heute? Wo war die gleichgelagerte Argumentation und die eigentlich fällige, folgerichtige Kritik an der Entscheidung des Münchner Oberbürgermeisters, der Gergiev sozusagen in Sippenhaft nahm, ihn auf eine Stufe mit dem Putin-Regime setzte und ihm ein Ultimatum stellte?
Deutschlands Doppelmoralisten
Deutschlands Doppelmoralisten werden jetzt entgegenhalten: Die zwei Fälle – russischer Dirigent versus jüdischer Dirigent – lassen sich ganz und gar nicht vergleichen. Gergiev ist/war ein ausgemachter Putin-Freund. Das Sterben ist im Gazastreifen überhaupt ein ganz anderes als in der Ukraine. Man müsse zwischen einem gerechten und einem ungerechten Krieg unterscheiden. Es gebe ja schließlich Angriff- und Verteidigungskriege, und die Sache ließe sich doch ganz einfach in Gut und Böse einteilen.
Ich verstehe alle Argumente vollumfänglich. Aber ChatGPT konnte im Netz keine einzige Meinungsäußerung von Gergiev zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine finden. Ihm wurde letztlich sein Schweigen zur Last gelegt. Dass man durch Schweigen seinen Job verliert, sollten wir in Deutschland aber nicht zur Regel werden lassen.
Ich glaube vielmehr, dass es grundsätzlich ein Recht darauf gibt, zu gesellschaftlichen oder politischen Sachverhalten schweigen zu dürfen. Denn sonst müsste es auch die Pflicht geben, zum Wählen zu gehen.
Vor dem Gesetz sind auch alle gleich. Es spielt keine Rolle, ob jemand im Rampenlicht steht oder desinteressiert auf der Couch liegt. So weit ich das Grundgesetz verstanden habe, gibt es ein Recht auf freie Meinungsäußerung, aber keine Pflicht.
Es gibt keine Pflicht zur Meinungsäußerung.
Mich wundert, dass man Gergiev ab der Saison 2015/2016 überhaupt in München als Dirigent beschäftigte. Denn da war die Krim schon annektiert. Dieser unfassbare Bruch des Völkerrechtes durch Russland war damals ganz und gar kein Hinderungsgrund für Gergievs Anstellung, obwohl es starke Indizien dafür gibt/gab, dass Gergiev die Annexion der Krim damals unterstützte.
Zu diesem Zeitpunkt hätte der damalige und heutige Münchner OB mit Recht sein Veto einlegen können. Hat er aber nicht. Aber 2022 war es dann plötzlich ein Ultimatum sich zu äußern, dem sich Gergiev ausgesetzt sah. Er ließ es verstreichen, und ich habe dafür ein gewisses Verständnis. Ein stolzer Russe lässt sich von einem Deutschen eher wenig diktieren. Da spielt wahrscheinlich auch die Geschichte eine Rolle.
Die Kritiker an meinen Ausführungen werden jetzt sagen, dass man das differenziert betrachten müsse. Differenziert einordnen – das ist noch besser. Deutschland tut tagein, tagaus nichts anderes, als die Dinge differenziert einzuordnen.
Wie sich der Münchner OB zum Fall Gent äußert
In einer offiziellen Stellungnahme der Stadt München vom 11. September 2025 nennt der OB die Münchner Philharmoniker „Kulturbotschafter“ der Stadt, die für „Offenheit, Vielfalt und Dialog“ stehen, und sagt, er könne die Entscheidung des Veranstalters „in keiner Weise nachvollziehen“. Zugleich stellt er klar, dass Stadt und OB an der Seite der Münchner Philharmoniker und ihres künftigen Chefdirigenten Lahav Shani stehen.
Dann lassen wir das mal so gelten. Das Thema Israel ist schwierig genug. Obwohl, einen habe ich noch, aus der Stellungnahme:
„Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder religiösen Zugehörigkeit von der Bühne, dem Konzertsaal oder anderen öffentlichen Orten zu verbannen, ist ein Angriff auf wesentliche europäische und demokratische Werte.“
Das sah der Münchner Ob bei Gergiev 2022 noch ganz anders. Da reichte es, dass seine Herkunft russisch war. Aber wie wurde denn seine Ernennung 2013 bzw. die Vertragsverlängerung 2018 von den kommunalen Polit-Größen kommentiert? Hier der Auszug:
„Als Gergiev 2013 berufen wurde, meinte Hans-Georg Küppers, der damals Kulturreferent war: „Valery Gergiev ist erste Wahl und steht für Aufbruch in jeder Hinsicht.“ Damit wurde seine Ernennung als Chancenperiode interpretiert, ein Aufbruch für das Orchester. Die Stadt München und das Kulturreferat unterstützten seine Berufung als eine Zukunftsinvestition in die künstlerische Qualität der Philharmoniker. Das Engagement für neue Konzertformate, das Einbringen von internationalen Projekten und das höhere Profil wurden als Vorteil gesehen.
„Bei der Vertragsverlängerung 2018 begrüßte der OB die Entscheidung und bezeichnete Gergiev als Glücksfall für München. Er sagte, man habe mit Gergiev „einen Chefdirigenten, um den uns viele andere Orchester und weltweite Klassikmetropolen beneiden“. Er lobte seine musikalische Qualität, die Vision und wie Gergiev die Münchner Philharmoniker langfristig prägen könne. Hier zeigt sich, dass Gergiev nicht nur als Künstler, sondern auch als kulturelles Aushängeschild gesehen wurde.“
Zur historischen Einordnung: Bei der Berufung Gergievs 2013 war es genau 13 Jahre her, dass Putin aus niederen Beweggründen die tschetschenische Stadt Grosny dem Erdboden gleichgemacht hatte. Anzahl der zivilen Toten: 5.000 bis 8.000. Das war alles kein Showstopper. Das interessierte in München niemanden.
Bei dieser aktuellen und gängigen Ausgrenzungspolitik sowohl von Russen als auch von Juden habe ich ein sehr schlechtes Gefühl und erinnere an den Mauerfall und die daraus resultierende deutsche Einheit. Beide Ereignisse hätte es nicht gegeben, wenn Westdeutschland über Jahrzehnte hinweg eine Ausgrenzungspolitik gegenüber der „DDR“ betrieben hätte. Denn das hätte zu einer nicht mehr reparierbaren Entfremdung zwischen den Menschen geführt.
Die Deutsche Einheit würde es mit den heutigen Politikern nicht mehr geben.
Unter der Ägide vor allem von Außenminister Genscher wurde immer penibel darauf geachtet, die ostdeutschen Menschen, die nichts mit der „DDR“-Elite in Wandlitz zu tun hatten, nicht für das Tun und Handeln von Honecker und Konsorten in Sippenhaft zu nehmen. Diese Genscherismus war sehr weitsichtig und letztlich von Erfolg gekrönt.
Genscher hätte dem russischen Dirigenten niemals ein Ultimatum gestellt. Er hätte vielmehr versucht, Gergiev politisch „einzufangen“. Genscher wusste, dass man ein Land, was immer es auch tut, nicht in Gänze und für immer fallen lassen kann. Denn jeder Konflikt, so schlimm er auch ist, endet irgendwann. Es wird auch eine Zeit nach Putin geben, so wie es eine Zeit nach Hitler gab. Dann muss dieses Russland zurück in die Völkergemeinschaft geführt werden, sowie das auch Deutschland gestattet wurde. Das erreicht man nicht, in dem man sogar kulturelle Brücken als letzte Bastion des Zusammenlebens einreißt.
Habe ich den Begriff Doppelmoral einigermaßen vernünftig begründen können?
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