
Und wieder wird davon gesprochen, dass ohne Reform die Beiträge zur GKV auf 18% steigen werden. Willkommen in der Republik der Reformitis, einem Land, in dem unter hohem Kostendruck und kaum Personal ein Kreuzbandriss operiert wird, und der Patient – in diesem Fall mein Neffe – am gleichen Tag das Krankenhaus wieder verlassen muss. Das ist schon allein deshalb voll daneben, weil er kaum zwölf Stunden später an gleicher Stelle zum Verbandswechsel erscheinen musste. Ich hätte nach der OP in meiner Blauäugigkeit in der Verwaltung angerufen, hätte gefragt, was eine Nacht kostet, weil ich diese Nacht aus der eigenen Tasche hätte bezahlen wollen. Ein Bett und drei Mahlzeiten. Das kann ja nicht die Welt kosten. Ich hätte mit 100 Euro gerechnet. Aber so schauen die Kosten tatsächlich aus:
Bereich | Durchschnittliche Kosten (pro Tag) |
Allgemeine stationäre Versorgung | ca. 500–700 € |
Innere Medizin / Chirurgie | ca. 600–800 € |
Intensivstation | ca. 1.300–2.000 € |
Privatklinik (ohne Kassenabrechnung) | bis zu 1.000–2.500 € |
Psychiatrie / psychosomatische Klinik | ca. 300–500 € |
500 bis 700 Euro für eine allgemeine stationäre Versorgung. Das kann nicht sein. Diese Kostenaufstellung würde ich doch gern einmal im Detail sehen. Noch Fragen, warum unser Gesundheitswesen mausetot ist?
Deutschland hat kein Gesundheitswesen. Deutschland hat ein Gesetzeswesen mit gelegentlichen ärztlichen Leistungen. Und was als notwendige „Reformen“ verkauft wird, ist meistens nur das feuchte Wunschdenken eines Referentenentwurfs, der auf dem Weg durch die Instanzen sämtliche Wirksamkeit verliert – aber mit einem hübschen Namen glänzt. Willkommen im politischen Wellness-Tempel der Placebo-Medizin. Denn weder lassen sich die Patienten wegreformieren, noch die Kosten, noch der demografische Wandel. Stattdessen muss das ganze System der Gesetzlichen Krankenversicherungen in seiner Gänze wegreformiert werden. Mit der Wurzel, samt Strunk und Stiehl herausreißen. Abwickeln.
Gesundheitsreformen: Mehr Etikett als Inhalt
Namen wie „Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz“, „Pflege-Weiterentwicklungsgesetz“ oder „Digitale-Versorgung-Gesetz“ klingen wie Versprechen aus einem Wellness-Prospekt. Tatsächlich sind sie meist eine Mischung aus PowerPoint-Rhetorik, Verwaltungskauderwelsch und der vagen Hoffnung, dass schon niemand so genau hinschaut, wenn man ein weiteres Milliardenproblem mit einem Paragrafen zukleistert. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz etwa sollte einst mehr Wettbewerb schaffen – heraus kam: ein Gesundheitsfonds, der genauso durchsichtig ist wie die Begründung seiner Existenz.
Wenn Prävention zur Pose wird
Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention – kurz Präventionsgesetz – sollte die Menschen zu gesünderem Verhalten motivieren. Heraus kamen: ein paar Plakate, Broschüren mit Karotten drauf und Zuschüsse für Nordic Walking in Hintertupfing. Gesunde Lebensweise wird in Deutschland nicht gefördert, sie wird verordnet – von Menschen, die wahrscheinlich glauben, „Bewegung“ sei ein Parteitag.
Pflege in der Krise
Dann gibt es noch die endlose Seifenoper namens Pflegereform. Die Politik betont regelmäßig, wie „wichtig“ Pflegekräfte sind – natürlich erst, nachdem sie das System vorher Jahrzehnte lang ausgelaugt hat wie ein Nachtdienst ohne Pause. Pflege wird beworben wie ein Start-up: viel Idealismus, wenig Lohn, null Nachhaltigkeit. Das jüngste Gesetz zur „Pflegeunterstützung“ ist vor allem eines: ein Pflaster auf einen offenen Bruch.
Krankenhausreform: Operation gelungen, Patient geschlossen
Die Krankenhausreform? Die größte Zaubershow linker Innenpolitik. „Weniger ist mehr“, hieß es in der letzten Legislaturperiode – und meinte damit: weniger Kliniken, mehr Kilometer zum nächsten Notarzt. Man nennt das „leistungsorientierte Finanzierung“. Das heißt: Nur wer viele Fälle behandelt, bekommt Geld. Qualität? Regionalversorgung? Notfälle? Alles sekundär. Hauptsache, die Fallpauschale stimmt. Wer keine Hüft-OPs in Serie produziert, darf gerne dichtmachen.
Fazit
Das deutsche Gesundheitssystem ist ein Opfer seines eigenen Perfektionismus. Jedes Problem wird mit einem neuen Regelwerk „behandelt“, als sei das System nicht krank, sondern nur unterreguliert. Es ist ein bürokratisches Biest mit Dauerfieber und selbstverursachtem Bluthochdruck. Was fehlt? Mut, Klarheit, Vertrauen – und manchmal einfach nur gesunder Menschenverstand. Aber der ist in der Gesetzgebung leider nicht abrechenbar.
Gesundheitsgesetze der letzten Jahrzehnte
Ich nehme das Fazit vorweg. Nur wenige Gesetze hatten irgendeinen Sinn.
1993, GStrukG, Gesundheitsstrukturgesetz
- Einführung von Arznei- und Heilmittelbudgets
- Start der Fallpauschalen in Krankenhäusern
- Freie Krankenkassenwahl und Einführung des Risikostrukturausgleichs
1999, GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz
- Einführung erneut regulierter Budgets für Ärzte, Krankenhäuser, Arznei- und Heilmittelversorgung
- Wiederherstellung des Anspruchs auf Zahnersatz für nach 1978 Geborene
2000, GKV-Gesundheitsreform
- Verstärkte Budgetkontrollen für Ärzteschaft, Arzneimittelversorgung und Krankenhäuser
- Einführung ärztlicher Regressregelungen bei Budgetüberschreitungen
2001, IfSG, SeuchRNeuG und Infektionsschutzgesetz
- Neuregelung des Seuchen- und Infektionsschutzes, verabschiedet nach HIV-Skandal
- Behörden, Gesundheitsämter, Ärzte und Anbieter in meldebehördliche Mitwirkung eingebunden
2001 ABAG, Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz
- Ablösung der Budgetierung bei Arznei- und Heilmitteln
- Schaffung flexiblerer Ausgabensteuerung auf regionaler Ebene
2002, AABG, Beitragssatzsicherungsgesetz & Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz
- Weiter schärfere Budgetregelungen und Kürzungen im Leistungsspektrum
- Ziel: Stabilisierung der GKV-Finanzen
2004, GMG, GKV-Modernisierungsgesetz
- Einführung: Praxisgebühr (10 €), Zuzahlungen bei Medikamenten (10 %), Krankenhauskosten (10 € pro Tag)
- Abschaffung von Erstattungen für rezeptfreie Arzneimittel und Sterbe-/Entbindungsgeld
- das einzige Gesetz, bei dem wenigstens die Richtung stimmte
2006, Vertragsarztrechtsänderungsgesetz
- erlaubt Ärzten, auch ohne die Kassenärztliche Vereinigung direkte Verträge abzuschließen
- Krankenhäuser können teilweise Vertragsärzte stellen
2007, GKV-WSG, Wettbewerbsstärkungsgesetz
- Einführung des Gesundheitsfonds ab 2009
- Einheitlicher Beitragssatz und morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich
- Einführung Versicherungspflicht
2008, PfWG, Pflege-Weiterentwicklungsgesetz
- Einrichtung von etwa 1.200 „Pflegestützpunkten“
- Lokale Beratungsstellen für Pflegebedürftige und Angehörige
2009, Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der GKV
- Einführung einer Insolvenzregelung für Krankenkassen
- Gründung von Haftungsgemeinschaften
2010, GJV-FinG, GKV-Finanzierungsgesetz
- hebt Deckelung der Zusatzbeiträge auf
- führt steuerliche Ausgleichsmechanismen ein
2011, AMNOG, Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz
- Einführung der frühen Nutzenbewertung neuer Medikamente
- Stärkung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung
- Preisverhandlungen zwischen Kassen und Pharmaindustrie
2011, GKV-VstG, GKV-Versorgungsstrukturgesetz
- Bessere Versorgung in unterversorgten Regionen
- Neue Bedarfsplanung unter Beteiligung der Bundesländer
- Einführung der spezialärztlichen Versorgung
- stärkt die Mitwirkung der Länder an der Versorgung
- Einführung spezialärztlicher Versorgung als dritter Sektor
2012, PNG, Pflege-Neuausrichtungsgesetz
- erweitert Pflegeleistungen, speziell für Menschen mit Demenz
2013, Patientenrechtegesetz
- bündelt Patientenrechte im BGB
- schafft mehr Transparenz und stärkt die Rechte von Patienten
2013, KFRG, Krebsfrüherkennungs- und Registergesetz
- Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Krebsvorsorge
- Einführung klinischer Krebsregister zur Qualitätssicherung
2013 ANSG, Apothekennotdienst-Sicherstellungsgesetz
- erhöht den Fixzuschlag um 16 Cent, um insbesondere ländliche Apotheken beim Notdienst zu unterstützen; trat am 1. August 2013 in Kraft
2013, Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung
- Ziel: Hilfe für Personen mit Schulden durch Versicherungspflicht seit GKV‑WSG 2007
- Erweiterung mit einem Krankenhaushilfspaket; trat zum 1. August 2013 in Kraft
2013, Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Umsetzung einer EU-Vorschrift zur Sicherheit von Medikamenten
- Verschärfung der Doping-Regeln
- Klarstellung zur frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln durch den G‑BA; Pharmafirmen können Vergleichstherapien vorschlagen, bei Preisverhandlungen wird die günstigste herangezogen
2015, E-Health-Gesetz
- Aufbau der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen
- Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK)
- Stufenplan zur Digitalisierung von Praxis- und Krankenhausabläufen
2019, DVG, Digitale-Versorgung-Gesetz
- Apps auf Rezept: Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA)
- Stärkung von Telemedizin und Videosprechstunden
- Förderung der Datennutzung für Forschungszwecke
2023, PUEG, Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz
- Verbesserung der Leistungen für Pflegebedürftige und Angehörige
- Erhöhung des Pflegegeldes
- Digitalisierung der Pflege- und Entlastungsangebote
2025, GVSG, Gesundheitsversorgungs-Stärkungsgesetz
- Stärkung der ambulanten Versorgung, besonders auf dem Land
- Entbudgetierung der hausärztlichen Vergütung
- Ausbau kommunaler Gesundheitszentren und Primärversorgungsmodelle
2025, GHG, Gesetz zur Stärkung der Herzgesundheit – das so genannte Gesundes‑Herz‑Gesetz – geplant
- Senkung der Herz-Kreislauf-Mortalität (die für rund ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich ist) bild.de+6bundestag.de+6herzmedizin.de+6.
- Früherkennung und Prävention über strukturierte Programme und moderne Therapiestrategien – möglichst evidenzbasiert und langfristig kostenneutral
2025, Krankenhausreform – geplant
- Neuordnung der Krankenhausfinanzierung
- Einführung von Leistungsgruppen und Vorhaltepauschalen
- Ziel: Qualität statt Quantität bei stationärer Versorgung
2026, GZKIZIBSGMEPDEPDUMZVVU, Gesetz zur Koordinierung interministerieller Zuständigkeitsabgrenzung im Bereich strukturübergreifender Gesundheitsregulierung mit ergänzender Prüfung durch unabhängige Multiplikatorengremien zur Vermeidung von Unterstrukturverzögerungen
- ja, ok, das war jetzt meine Idee…
- ich konnte nicht anders
2027, WKUWDG, Wir-kümmern-uns-wirklich-drum-Gesetz
- das ist auch meine Idee
- aus Liebe zum Patienten
- steuerneutrale Finanzierung durch Luft und Hoffnung
Bleiben Sie gesund. Oder wenigstens ironisch. Oder wenden Sie sich angewidert ab. Der Leser ahnt, was sich aus dem heutigen Blog für mein Regierungsprogramm ableitet: Teil IX: Abschaffung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Stay tuned.
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