
Bevor das Thema spätestens morgen maustot ist, schauen wir uns an, wie Pflegeversicherung überhaupt funktioniert bzw. funktionieren sollte. Direkt beschäftigt habe ich mich mit dem Thema noch nie.
Die Pflegeversicherung ist seit 1995 die sogenannte „fünfte Säule“ der Sozialversicherung (neben Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung) und im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) geregelt.
Wenn ich schon höre, dass wir ein Elftes Sozialgesetzbuch gibt, werde ich schon wieder emotional. Es gibt sogar noch ein Zwölftes. 12 Sozialgesetzbücher, wahrscheinlich alles dicke Wälzer:
- SGB I – Allgemeiner Teil, Grundsätze des Sozialrechts, z. B. Anspruch, Beratung, Mitwirkungspflichten
- SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende, („Hartz IV“, seit 2023 Bürgergeld)
- SGB III – Arbeitsförderung, (Arbeitslosengeld I, Arbeitsvermittlung, Weiterbildung)
- SGB IV – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (Versicherungsrecht, Begriffe, Organisation)
- SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung
- SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung
- SGB VII – Gesetzliche Unfallversicherung
- SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe
- SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
- SGB X – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
- SGB XI – Soziale Pflegeversicherung
- SGB XII – Sozialhilfe (u. a. Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung)
Und weil das zu wenig ist, gibt es mindestens zwei weitere Themen, die noch nicht in ein SGB überführt wurden, z. B. das BAföG oder das Bundeskindergeldgesetz – sie gelten als „besonderes Sozialrecht“.
Grundprinzipien
- Teilkaskoversicherung: Die Pflegeversicherung deckt nur einen Teil der tatsächlichen Pflegekosten ab. Eigenanteile müssen meist von den Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen getragen werden.
- Pflichtversicherung: Jeder, der in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, ist automatisch in der sozialen Pflegeversicherung. Privatversicherte müssen eine private Pflegepflichtversicherung abschließen.
- Solidarprinzip: Beiträge richten sich nach dem Einkommen, nicht nach individuellem Risiko.
Die deutschen Solidarprinzipien geraten immer stärker unter Beschuss, weil der Missbrauch stetig zunimmt. Für das Jahr 2023 berichtete die Bundesagentur für Arbeit, dass durch Missbrauch im Bürgergeld rund 260 Millionen € Schaden entstanden seien (also nachgewiesene Fälle). Insgesamt kann man von 100 Milliarden Euro Sozialbetrug pro Jahr in Deutschland ausgehen. Näheres erklärt uns der Focus.
Beitragssätze
- Grundbeitrag: 3,6 % des Bruttoeinkommens
- Kinderlose ab 23 Jahren: + 0,6 % Zuschlag
- Beiträge werden je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen (außer Kinderlosenzuschlag: den trägt der Arbeitnehmer allein).
- Für Rentner übernehmen die Rentenversicherungsträger den Arbeitgeberanteil
Von der hälftigen Übernahme von Kosten durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber habe ich noch nie etwas gehalten. Das empfinde ich als völlig sinnlose Erfindung. Denn auch die Hälfte des Geldes, dass ich als Arbeitnehmer bezahle, wird ja letztlich vom Arbeitgeber bezahlt. Viel logischer und richtig wäre es, mein Gehalt um die Arbeitgeber-Sozialbeiträge zu erhöhen. Anschließend stemme ich die Gesamtkosten von meinem Gehalt selbst. Alles andere ist eine Verwischung von Kosten und Einnahmen.
Organisation
- Träger sind die Pflegekassen, die bei den Krankenkassen angesiedelt sind (z. B. AOK-Pflegekasse, TK-Pflegekasse).
- Private Krankenversicherer bieten die Private Pflegepflichtversicherung (PPV) an.
Leistungen
Man unterscheidet zwischen:
- Pflegesachleistungen (z. B. Pflegedienst)
- Pflegegeld (für selbst organisierte Pflege durch Angehörige)
- Kombinationsleistungen.
Dahinter verstecken sich dann:
- Pflegegeld: monatliche Zahlung an Pflegebedürftige, wenn Angehörige pflegen.
- Sachleistungen: Finanzierung professioneller ambulanter Pflegedienste.
- Stationäre Pflege: Zuschüsse für Pflegeheime.
- Kurzzeit- und Verhinderungspflege: zeitweise Entlastung für Angehörige.
- Pflegehilfsmittel: technische Hilfen, Verbrauchsmittel (Handschuhe, Betteinlagen).
- Entlastungsbetrag: 125 € monatlich für Angebote wie Haushaltshilfen.
Pflegegrade
Statt der früheren „Pflegestufen“ gibt es seit 2017 die Pflegegrade 1 bis 5. Es war extrem wichtig, dass die Bezeichnung geändert wurde. Anschließend lief es direkt viel besser.
Grundlage für die Pflegegrade ist das Neue Begutachtungsassessment (NBA) durch den Medizinischen Dienst (MD). Bewertet werden Selbstständigkeit, Mobilität, kognitive Fähigkeiten, Verhalten, Selbstversorgung, Umgang mit Therapien und Alltagsgestaltung. Je nach Pflegegrad steigen die Leistungen (Pflegegrad 1 = gering, Pflegegrad 5 = schwerste Beeinträchtigung mit besonderen Anforderungen).
Wenn sich bei der Oma der Medizinische Dienst zur Begutachtung ansagt, dann wird die Oma schon Tage vorher durch die Familie gebrieft. Wichtig ist es, wie folgt zu reagieren:
- Im Bett liegen
- Bewegungsunfähigkeit zeigen
- auf Fragen mit Schwerhörigkeit reagieren
- möglichst viel wirres Zeug reden
- Schmerzen demonstrieren
Denn dann klappt es auch – mit der richtigen Einstufung.
Weil ich dieses Instrument nun mal nicht wie gewünscht abschaffen kann, gäbe es bei mir eine ganz einfache Logik: Stufe 1 ab 75 Jahre und alle fünf Jahre eine Stufe mehr. Medizinischer Dienst? In die Produktion. Missbrauch? Unmöglich.
Private Vorsorge
Weil die gesetzliche Pflegeversicherung nicht alle Kosten deckt, gibt es ergänzende private Produkte wie die Pflegezusatzversicherung (Pflege-Bahr mit staatlicher Förderung, Pflegetagegeld, Pflegerente) um den Eigenanteil im Pflegefall zu reduzieren. Pflege-Bahr? Das ist so etwas wie HartzIV. Die Logik, dass sich Begrifflichkeiten nach Politiker-Namen richten, konnte ich noch nie verstehen. Daniel Bahr als Erfinder der Pflegezusatzversicherung war in der Merkel-Regierung von 2011 bis 2013 Bundesgesundheitsminister.
Wir sprechen von den letzten Zuckungen der zusammenbrechenden Sozialsysteme.
Die Pflegeversicherung und auch die Pflegezusatzversicherung sind seltsame Instrumente. Unter einer Versicherung verstehe ich, dass ich mich gegen etwas Unerwartetes absichere. Mein Haus brennt ab. Ich fahre mein nagelneues Auto zu Schrott. Ich verursache einen Fremdschaden, ich habe einen gesundheitlichen Großschaden, usw.
Pflegebedürftigkeit ist aber nichts Unerwartbares und wird alle von uns betreffen. Damit ist eine Versicherung eine völlig unlogische Sache und führt natürlich auch zu den erwartbaren menschlichen Reaktionen. Die Menschen sagen sich, dass sie Anspruch haben auf die Leistungen der Pflegeversicherung. So funktioniert aber eine Versicherung nicht. Eine Versicherung beruht immer auf der Kalkulation, dass viele einzahlen und wenige in den Genuss von Leistungen kommen. Dann bleibt das System stabil.
Die Pflegeversicherung ist aber ein Konstrukt, bei dem alle Menschen einzahlen und nahezu alle Menschen (irgendwann) Leistungen bekommen. Damit wäre jede normale Versicherung überfordert und somit nicht finanzierbar. Und diesen Effekt sehen wir bei der Pflegeversicherung.
Sozialsysteme am Kipppunkt
Statt aber nun das Übel bei der Wurzel zu packen, diskutiert man über die Abschaffung des Pflegegrades 1. Und schon steigen sie auf wie Phönix aus der Asche. Der Paritätische Wohlfahrtsverband in Form von Ulrich Schneider hält die Streichung reflexartig für ein fatales Signal. Sahra Wagenknecht holt das stärkste aller Totschlagsargumente heraus: 9 Milliarden Euro für Waffen für die Ukraine versus Einsparungen in Höhe von 1,8 Milliarden Euro bei der Pflegeversicherung.
Man kann sich von den deutschen Sozialsystemen nur angewidert abwenden und vorsichtig nachfragen, ob bei den politischen Akteuren im Oberstübchen noch alles in Ordnung ist. Ist aber egal. Bei der Diskussion wird nichts herauskommen. Über unser unreformierbares Deutschland hatte ich mich ja schon ausgelassen.
Jens Spahn als Fraktionsvorsitzender hat dementsprechend die Begrifflichkeit „Herbst der Reformen“ bereits einkassiert. Dieses Jahr geschieht also überhaupt nichts mehr.
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